G 1/03 - "Disclaimer" - Entscheidung

Shownotes

In dieser zweiten und abschließenden Folge sprechen Lukas Fleischer und Michael Stadler über die verbundenen Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts aus dem Jahr 2004, wobei diese Episode die Leitsätze in Zusammenhang mit der Einführung von nicht ursprungsoffenbarten Disclaimern und die Auflösung der Ausgangsfälle behandelt. Auch diskutiert werden die unterschiedlichen Herangehensweisen in Zusammenhang mit der Abgrenzung von älteren Rechten, nämlich dem vom EPA nunmehr praktizierten Whole-Content-Approach und dem Prior-Claim-Approach.

Zusammenfassung

Die Große Beschwerdekammer kam zu dem Schluss, dass nicht ursprungoffenbarte (undisclosed) Disclaimer grundsätzlich möglich sind. Disclaimer kann man aus drei Gründen eingeführt werden, nämlich

  • um Neuheit gegenüber einem älteren Recht herzustellen,
  • um Neuheit gegenüber einer zufälligen Vorveröffentlichung herzustellen, und
  • um Gegenstände auszuklammern, die aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen sind.

Unter einer zufälligen Veröffentlichung versteht man eine Veröffentlichung, die so unerheblich für die beanspruchte Erfindung ist und so weitab von ihr liegt, dass sie der Fachmann bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte, jedoch kommt dies in der Praxis äußerst selten vor.

Ein Disclaimer darf weiters nicht mehr ausschließen als unbedingt erforderlich und muss klar sein.

Ausgang der Vorlagefälle

Im ersten Vorlagefall (beschichtetes Glassubstrat) wurde die Zufälligkeit des Stand der Technik Dokuments verneint, sodass kein Disclaimer zulässig war. Die Patentinhaberin musste auf eine herkömmliche Einschränkung zurückgreifen und Schichtzusammensetzungen aus dem Anspruch streichen, konnte so aber das Patent in beschränktem Umfang - aber ohne Disclaimer - verteidigen.

Im zweiten Vorlagefall (HIV-Test) wurden insgesamt 12 undisclosed Disclaimer eingeführt, um sich vom älteren Recht abzugrenzen. Diese Disclaimer wurden auch als zulässig angesehen, jedoch wurde der derart beschränkte Anspruch als nicht neu befunden. Auch in diesem Fall konnte das Patent durch entsprechende Änderungen des Anspruchs ohne Disclaimer aufrecht erhalten werden.

Leitsätze

I. Die Änderung eines Anspruchs durch die Aufnahme eines Disclaimers kann nicht schon deshalb nach Artikel 123 (2) EPÜ abgelehnt werden, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem beanspruchten Bereich ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist.

II. Die Zulässigkeit eines in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbarten Disclaimers ist nach folgenden Kriterien zu beurteilen:

II.1 Ein Disclaimer kann zulässig sein, wenn er dazu dient:

  • die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ abgrenzt;

  • die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einer zufälligen Vorwegnahme nach Artikel 54 (2) EPÜ abgrenzt; eine Vorwegnahme ist zufällig, wenn sie so unerheblich für die beanspruchte Erfindung ist und so weitab von ihr liegt, daß der Fachmann sie bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte; und

  • einen Gegenstand auszuklammern, der nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.

II.2 Ein Disclaimer sollte nicht mehr ausschließen, als nötig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder einen Gegenstand auszuklammern, der aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.

II.3 Ein Disclaimer, der für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant ist oder wird, stellt eine nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässige Erweiterung dar.

II.4 Ein Anspruch, der einen Disclaimer enthält, muß die Erfordernisse der Klarheit und Knappheit nach Artikel 84 EPÜ erfüllen.

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Transkript anzeigen

00:00:00: Willkommen zum IP-Courses Podcast, dem Podcast für gewerblichen Rechtschutz.

00:00:12: Mein Name ist Lukas Fleischer.

00:00:18: In der letzten Folge haben wir die Vorgeschichte der beiden Entscheidungen der Großen Beschwerderkammer

00:00:22: G1 und G2/03 aus dem Jahr 2004 besprochen, die unter dem Schlagwort "undisclosed Disclaimer"

00:00:28: bekannt geworden sind.

00:00:30: Heute sehen wir uns an, wie die Große Beschwerderkammer geantwortet hat.

00:00:34: Wir gewohnt kurz eine Zusammenfassung des Ausgangsfalls oder der Ausgangsfälle.

00:00:38: Im ersten Fall ging es um eine Erfindung zur Herstellung hitzerbeständiger metallisch

00:00:42: beschichteter Gläser oder Glasscheiben, die in Autos, Gebäuden oder Solarzellen verwendet

00:00:46: werden.

00:00:47: Gegen dieses Patent wurde Einspruch eingelegt und der Einspruch basierte auf mangelnde Neuheit,

00:00:51: da ein älteres Dokument einen ähnlichen Gegenstand beschrieb, der zwar alle Merkmal

00:00:56: des Anspruchs aufwies, aber nach Ansicht des Inhabers eigentlich auf einem komplett anderen

00:01:01: Gebiet lag als die beanspruchte Erfindung.

00:01:02: Der Patentinhaber versuchte sich im Einspruch aus dieser Situation zu retten, indem er

00:01:08: einen nicht ursprungsoffenbarten Disclaimer eingeführt hat.

00:01:11: Der zweite Fall drehte sich um einen HIV-Test, der durch einen ähnlichen Einspruch mit Disclaimern

00:01:18: beschränkt wurde, da hier ein älteres Recht vorlag, das neuheitsschädlich für den beanspruchten

00:01:23: Gegenstand war.

00:01:24: Auch in diesem Fall wurde der Einspruch basierend auf dem Einspruchsgrund der mangelnden Neuheit

00:01:28: eingelegt und der Patentinhaber hat versucht sich mit einem Disclaimer, also dem Ausnehmen

00:01:33: von Merkmalen gegen über dem Stand der Technik abzugrenzen, aber diese Merkmale des Disclaimers

00:01:38: waren ursprünglich nicht in der Anmeldung offenbart.

00:01:40: Die Vorlagefragen, die der Großen Beschwerderkammer gestellt wurden, drehten sich nun um die grundsätzliche

00:01:46: Frage der Zulässigkeit solcher nicht ursprungsoffenbarter Disclaimer.

00:01:50: Besonders relevant war die Frage, ob ein Disclaimer dazu verwendet werden kann, Neuheit

00:01:55: gegenüber einer zufälligen Vorveröffentlichung zu schaffen und was genau als zufällig zu

00:01:59: definieren ist.

00:02:00: Eine andere Vorlagefrage beschäftigte sich mit der Zulässigkeit von Disclaimern, wenn es

00:02:05: um die Abgrenzung zu älteren Rechten geht.

00:02:08: Und schließlich wurde in der Vorlage auch die zulässige Reichweite des Disclaimers diskutiert.

00:02:13: Jetzt wird uns Michael Stadler die Entscheidung der Großen Beschwerderkammer vorstellen.

00:02:16: Hallo Michael.

00:02:17: Hallo Lukas.

00:02:18: Wie ist denn die große Beschwerderkammer jetzt den Fall angegangen?

00:02:21: Zunächst einmal und das ist bei der Großen Beschwerderkammer immer so ein Einstiegspunkt,

00:02:26: ist die Zulässigkeit zu diskutieren.

00:02:29: Und eine wesentliche Zulässigkeitsvoraussetzung hier ist, dass es eine gewisse Uneinigkeit

00:02:34: unter den Beschwerderkammern gibt über die Fragen, die gestellt wurden, in unserem Fall

00:02:39: die nicht ursprungsoffenbarten Disclaimer.

00:02:42: Es gab ja, das haben wir letztes Mal besprochen, eine eher großzügigere Linie, die in bestimmten

00:02:47: Fällen solche nicht ursprungsoffenbarten Disclaimer zuließ.

00:02:51: Im Gegensatz dazu, gab es auch eine Entscheidung oder eigentlich eine Rechtsprechungslinie,

00:02:57: die in einem nicht offenbarten Disclaimer überhaupt einen Verstoß gegen Artikel 123 Absatz 3 EPÜ

00:03:03: erblickt hatte und zwar unabhängig von den Umständen.

00:03:06: Das heißt also auch die Große Beschwerderkammer hat hier eine Divergenz festgestellt, die

00:03:11: ausreichend ist, um eine Vorlagefrage zu rechtfertigen.

00:03:14: Ja, daran bestand kein Zweifel.

00:03:16: Ein Aspekt, der von zahlreichen Inhaber-Vertretern in Amicus Curie  Briefs aufgebracht wurde,

00:03:22: war, dass in Disclaimer eine freiwillige Beschränkung darstellt, bei der der Anmelder  auf einen

00:03:27: Teil seines Anspruchs verzichtet.

00:03:28: Kann man das wirklich so sehen?

00:03:30: Ja, die Aussage findet sich zum Teil auch heute noch so.

00:03:34: Die Kammer hat aber ganz grundsätzlich damit aufgeräumt.

00:03:37: Ich meine, stell dir vor, ein Patentinhaber, der verzichtet ja nicht freiwillig auf seinen

00:03:42: Schutzbereich, obwohl dieser ihm rechtmäßig zusteht.

00:03:46: Das wäre grundsätzlich absurd und das dürften ja auch die Unternehmen gar nicht machen, dass

00:03:52: sie einfach freiwillig Schutzbereich oder Produktionsmöglichkeiten an die Konkurrenz

00:03:57: verschenken.

00:03:58: Als würde ein Unternehmen freiwillig gegenüber allen Konkurrenten einen Marktvorteil aufgeben.

00:04:05: Hinter einer Beschränkung des Patents und sei es auch nur minimal durch einen Disclaimer

00:04:09: steckt immer die Intention, die eigene Position sei es im Anmelde- oder Einspruchsverfahren oder

00:04:15: auch in einem Nichtigkeitsverfahren zu verbessern.

00:04:17: Ja, so würde ich das grundsätzlich auch sehen, dass ein Patentinhaber nie freiwillig auf

00:04:22: was verzichtet, was er eigentlich haben könnte.

00:04:25: Ein weiteres Argument ist, dass die Einschränkung mit Disclaimers keine technische Wirkung mit

00:04:30: sich bringt.

00:04:31: Wie schaut das denn da um mich aus?

00:04:32: Auch das hat die Kammer nicht akzeptiert.

00:04:35: Das geht zurück auf die Entscheidung G1/93, bei der es ja wesentlich darauf ankommt,

00:04:42: ob eine Beschränkung technische Wirkungen hat oder nicht.

00:04:46: Und insoweit hat die Kammer hier ihre Position zur G1/93 noch einmal klargestellt.

00:04:53: Jede Änderung eines Anspruchs bringt im Prinzip eine technische Wirkung mit sich, sonst hätte

00:04:58: sie ja keinen Sinn, wäre zum Beispiel also auch zur Neuheitsabgrenzung nicht geeignet.

00:05:04: Mit dem Disclaimer will man ja gerade etwas aus dem Patentanspruch eliminieren, dass da

00:05:10: nicht drinnen sein soll.

00:05:11: Und das ist natürlich eine technische Einschränkung, sonst ging ja das ja gerade nicht.

00:05:15: Da jetzt also klargestellt worden ist, dass die Einführung auch eines nicht offenbarten

00:05:20: Disclaimers kein freiwilliges Geschenk des Patentinhabers an die Allgemeinheit darstellt,

00:05:25: sondern das Patent retten soll, kann ich jetzt ein Patent von einem älteren Recht mittels

00:05:30: eines solchen nicht offenbarten Disclaimers abgrenzen.

00:05:32: Um die Frage zu beantworten, geht die Kammer jetzt einen Schritt zurück und fragt nach

00:05:38: dem Grund, der hinter dem Artikel 54 (3) EPÜ steht.

00:05:42: Zur Entstehungszeit gab es hier nämlich zwei unterschiedliche Ansätze, wie man mit älteren

00:05:48: Rechten umgehen kann.

00:05:49: Es gab einerseits den Whole-Contents-Aproach, bei dem die gesamte frühere Anmeldung als

00:05:54: Stand der Technik gilt und andererseits den Prior-Claim-Approach, der nur die Ansprüche

00:06:00: beider Anmeldungen miteinander vergleicht, um Doppelpatentierung zu vermeiden.

00:06:04: Warum hat man das so gemacht?

00:06:06: Weil ich meine, grundsätzlich Doppelpatentierung geht es ja um den Schutzbereich und nicht

00:06:10: um die Neuheit als Kriterium der Patentierbarkeit.

00:06:13: Die Entscheidung beruhte im Prinzip auf praktischen Gründen.

00:06:17: Bei der Anwendung des Prior-Claim-Approachs kommt es ja darauf an, was in dem Verfahren

00:06:22: der älteren Anmeldung im Endeffekt rausgekommen ist.

00:06:25: Das heißt, der Prior-Claim-Approach verzögert die Prüfung und erfordert eine genaue Festlegung

00:06:30: des Schutzbereichs des älteren Rechts, was eigentlich nicht die Aufgabe des Europäischen

00:06:35: Patentamts bei der Beurteilung der späteren Anmeldung ist.

00:06:39: Das heißt also, der Whole-Contents-Approach, den das EPA hier bevorzugt ist, sozusagen

00:06:43: eine quick-and-dirty Lösung, die in den meisten Fällen eine Doppelpatentierung verhindert

00:06:48: und zusätzlich ist die Rechtslage bereits 18 Monate nach dem Anmeldetag der älteren

00:06:52: Anmeldung festgelegt.

00:06:54: Und man muss nicht warten, bis das Patent erteilt ist, um zu beurteilen, ob das ein

00:06:58: älteres Recht ist oder nicht.

00:07:00: Genau.

00:07:01: Und wenn man die Bedeutung von älteren Rechten so interpretiert wie die Kammer, dann geht

00:07:06: es eben bei der Abgrenzung vom älteren Recht nur darum, die Erfindung des späteren Anmelders

00:07:13: von der Erfindung des früheren Anmelders abzugrenzen.

00:07:16: Eine Abgrenzung, die eigentlich nur festlegt, wem welcher Schutzbereich zusteht und die

00:07:23: die Allgemeinheit eigentlich gar nichts angeht.

00:07:25: Und damit kann eine solche Abgrenzung auch mit einem Disclaimer vorgenommen werden,

00:07:31: der ursprünglich nicht offenbar ist, denn es geht jetzt nicht darum, was gegenüber der

00:07:37: Allgemeinheit insgesamt wirkt, sondern einfach nur wem von beiden ein gewisser Schutzbereich

00:07:42: zusteht.

00:07:43: Wenn es jetzt aber wirklich nur um die relative Rechtsposition von zwei Parteien geht und

00:07:49: das wirklich so gemeint war, dann erscheint es aber systemwidrig, wenn gleichzeitig ein

00:07:53: älteres Recht von jedermann als Einspruchsgrund gelten gemacht werden kann, oder?

00:07:58: Man kann schon sagen, dass der Whole-Contents-Approach so einfach verständlich und praktikabel er auch

00:08:03: ist, dogmatisch schon viele Fragen aufwirft.

00:08:06: Aus diesem Grund hat auch die Kammer in der Entscheidung T323/97 den dogmatischen

00:08:12: Ballast einfach über Bord geworfen und das Übereinkommen buchstabengetreu befolgt.

00:08:17: Im Ergebnis müssen wir damit leben, dass der Interessenausgleich zwischen dem Inhaber

00:08:21: und dem Anmelder einer früher veröffentlichen Anmeldung auch von einem Dritten wahrgenommen

00:08:26: werden kann.

00:08:27: Und wenn das geht, dann kann man eben auch einen nicht ursprungsoffenbarten Disclaimer

00:08:31: einführen.

00:08:32: Aber ich gebe schon zu, das Ganze steht dogmatisch auf etwas wackeligen Beinen.

00:08:35: Gut, schauen wir uns wieder konkret an, worum es dann eigentlich gegangen ist.

00:08:39: Wie hat denn die Kammer jetzt die Frage mit der zufälligen Veröffentlichung entschieden?

00:08:43: Ja, hier weiß ich die Kammer sehr bewusst, dass sie hier mit dem Feuer spielt, wenn sie

00:08:47: an der Zulässigkeit von Disclaimern dreht und diese auch bei normalen Vorveröffentlichungen

00:08:53: zulässt.

00:08:54: Die generelle Vorstellung der Kammer bestand darin, dass weiterhin zu Beginn eine detaillierte

00:08:59: Beschreibung der Erfindung vorliegen muss und dass man Patentansprüche formuliert mit

00:09:05: Rückzugspositionen, auf die man sich im Fall der Fälle zurückziehen kann.

00:09:08: Wenn man nun nicht ursprungsoffenbarte Disclaimer einfach unbeschränkt erlaubt, würde sich

00:09:14: ein Anmelder oder Inhaber aber nur mehr so abgrenzen.

00:09:17: Wenn man einen Disclaimer aufnimmt, bekommt man im Endeffekt nämlich mehr Schutzbereich,

00:09:23: verglichen mit der sonst üblichen Praxis eigene Merkmale aufzunehmen.

00:09:27: Das Patent würde sich - so die Kammer - auch stärker am Stand der Technik orientieren als an den

00:09:34: eigenen Stärken der Erfindung.

00:09:35: Man hätte also nur noch sehr, sehr allgemeine, nicht neue Schutzbereiche und dann jede Menge

00:09:41: Ausnahmen, die sich einfach am Stand der Technik orientieren.

00:09:45: Die besonderen Merkmale, die die Erfindung ausmachen und die den eigentlichen technischen

00:09:50: Effekt bewirken, hätte man dann allerdings nicht mehr ein Patentanspruch.

00:09:53: Und das wäre eine vollkommen andere Art von Patentansprüchen und Anspruchsformulierung

00:09:59: und so wollte man das eigentlich nicht.

00:10:03: Das würde ja auch zu einem komplett anderen Anmeldverfahren führen, da eigentlich über

00:10:07: den Oberbegriff das Anspruchs 1 hinschreiben und dann mit einem ganzen Haufen von negativen

00:10:15: Disclaimern dann alles ausklammern, was man im Stand der Technik gefunden hat und hat

00:10:20: sozusagen den breitesten Schutzbereich, indem man in den Käse die Löcher erst nachträglich

00:10:25: hineinschneidet.

00:10:26: Genau, du könntest auch völlig spekulativ irgendwelche sehr weitreichenden Ansprüche

00:10:31: formulieren und dann einfach mal schauen, was das Patentamt so findet.

00:10:35: Dann hättest du, wie du richtig sagst, so ein Patentanspruch, der ganz generisch ist

00:10:40: mit einer riesen Latte an Ausnahmen.

00:10:43: So willst du als Allgemeinheit auch nicht einen Patentanspruch dir anschauen.

00:10:48: Nachdem das Verfahren ja Gott sei Dank heute nicht so funktioniert, wie hat denn die Große

00:10:54: Beschwerdekammer verhindert, dass nicht ursprungsoffenbarte Disclaimer das Verfahren so dominieren,

00:10:59: wie wir es gerade angedeutet haben?

00:11:01: Hier hat man zwar grundsätzlich gesagt, nicht ursprungsoffenbarte Disclaimer können zulässig

00:11:07: sein, wenn die Veröffentlichung zufällig ist.

00:11:11: Dieses Kriterium der Zufälligkeit hat man nun aber näher und ich möchte sagen extrem

00:11:17: eng definiert.

00:11:18: Eine Vorwegnahme, also ein Stand der Technik, ist nur dann zufällig vorveröffentlicht, wenn

00:11:26: er so unerheblich für die Erfindung ist und so weit ab von ihr liegt, dass, wie die Kammer

00:11:32: sagt, der Fachmann sie bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte.

00:11:37: Gemeint ist da wohl, dass der Fachmann die Veröffentlichung nicht bei der Beurteilung

00:11:42: der erfinderischen Tätigkeit und der Ausführbarkeit berücksichtigt hätte. Wie wirkt sich das

00:11:46: auf die Praxis aus, dass das mit der zufälligen Veröffentlichung doch sehr eng

00:11:50: definiert worden ist? Interessant ist, dass es in der gesamten Rechtsprechung

00:11:55: der Beschwerdekammern praktisch keine Entscheidung gibt, die feststellt, dass

00:12:00: eine Vorveröffentlichung zufällig ist und dementsprechend ein nicht ursprungsoffenbarter

00:12:05: Disclaimer zulässig ist. Die Große Beschwerdekammer ist dann aber noch weitergegangen

00:12:11: und hat auch Möglichkeiten für nicht ursprungsoffenbarte Disclaimer geschaffen,

00:12:15: die andere Patentierbarkeitsvoraussetzungen betreffen? Ja, das haben die vorliegenden

00:12:19: Kammern zwar eigentlich nicht gefragt, aber es passt ganz gut zum Fall und die

00:12:23: Große Beschwerdekammer hat sich da bemüht, die Disclaimer-Möglichkeit für alle

00:12:27: nicht technischen Patentierbarkeitsvoraussetzungen zu erlauben.

00:12:31: In diesem Sinn erweisen sich auch die Voraussetzungen der gewerblichen Anwendbarkeit sowie

00:12:36: die Ausnahmen des Artikel 53 als nicht technisch, sodass auch in diesen Fällen

00:12:42: immer ein nicht ursprungsoffenbarter Disclaimer eingefügt werden kann.

00:12:45: Zum Beispiel, wenn es notwendig ist ein Verfahren, zum Beispiel nicht diagnostisch

00:12:52: oder nicht therapeutisch zu machen oder einen Eingriff in die menschliche

00:12:57: Keimbahn auszunehmen. Der Hintergrund, den die Große Beschwerdekammer in dem

00:13:02: Zusammenhang angegeben hat, war der, dass Anmeldungen ja durchaus von Erfindern und

00:13:08: Anmeldern weltweit beim Europäischen Patentamt eingereicht werden und dass

00:13:12: nicht jeder Anmelder oder Erfinder weltweit genau weiß, welche Patentierbarkeitsausnahmen

00:13:18: beim Europäischen Patentamt bestehen, die eben nicht technisch sind.

00:13:23: Und aus diesem Grund hat man das hier zugelassen. Und auch eine spätere

00:13:27: Entscheidung G1/07 hat sich dann genau auf diesen Punkt bezogen, wenn es um den

00:13:33: Ausschluss von Ausführungsformen ging, die chirurgisch waren.

00:13:37: Vielleicht sollten wir uns die Entscheidung auch einmal anschauen. Hat denn die

00:13:40: Große Beschwerdekammer auch definiert, in welchen Fällen ein nicht ursprungsoffenbarter 

00:13:45: Disclaimer nicht eingeführt werden kann?

00:13:48: Ja, grundsätzlich können Disclaimer nicht verwendet werden, wenn diese

00:13:51: einen technischen Beitrag leisten. Das heißt, wenn sie notwendig sind, um

00:13:55: erfinderische Tätigkeit oder Ausführbarkeit herzustellen.

00:13:59: Zum Beispiel, wenn ein Anspruch nicht funktionsfähige Alternativen enthält,

00:14:03: aber die Patentschrift ausreichend klare Kriterien zur Auswahl geeigneter

00:14:08: Alternativen liefert, dann ist ein Disclaimer unnötig. Und du musst dich im

00:14:12: schlimmsten Fall eben auf die funktionsfähigen Alternativen beschränken.

00:14:15: Der praktisch bedeutsamste Fall ist sicher die erfinderische Tätigkeit. Kann man jetzt

00:14:19: sich mit einem undisclosed Disclaimer über die erfinderische Tätigkeit drüber retten?

00:14:24: Dass ein nicht ursprungsoffenbarter Disclaimer hier unzulässig ist,

00:14:28: das war in der Rechtsprechung nicht strittig. Mängel der erfinderischen Tätigkeit

00:14:34: können niemals mit einem nicht ursprungsoffenbarten Disclaimer behoben werden.

00:14:39: Man sieht das auch daran, dass die Grenze der Zulässigkeit eines

00:14:45: nicht ursprungsoffenbarten Disclaimers schon praktisch quer durch die Neuheitsvoraussetzung

00:14:51: durchläuft. Hier hast du die Grenze zwischen der zufälligen Veröffentlichung und dem ganz

00:14:56: allgemeinen Stand der Technik im Sinne des Artikel 54 (2) EPÜ. Bei der erfinderischen Tätigkeit

00:15:02: bist du sicher jenseits dieser Grenze, sodass auch ein Disclaimer keinesfalls zulässig sein kann.

00:15:09: Angenommen, ich möchte jetzt so einen nicht ursprungsoffenbarten Disclaimer einführen und der

00:15:14: überlebt die Zulässigkeitsprüfung. Gibt es denn auch was, worauf man bei der Formulierung

00:15:18: des Disclaimers achten muss, hat die Große Beschwerderkammer uns da Richtlinien gegeben.

00:15:22: Klar ist einmal, dass ein Disclaimer nur dann gerechtfertigt ist, wenn er dazu dient,

00:15:26: eine neuheitsschädliche Offenbarung oder einen nicht patentierbaren Gegenstand auszuschließen.

00:15:32: Es bedeutet jedoch nicht, dass der Anmelder oder Inhaber seine Ansprüche beliebig ändern darf.

00:15:38: Der Disclaimer sollte nur so viel ausschließen, wie nötig ist, um den Rechtsbestand zu gewährleisten.

00:15:45: Die Idee ist schon, die Allgemeinheit nicht mit einer Vielzahl von unnötigen Disclaimern zu

00:15:50: behelligen und damit vollkommen unverständliche Patentansprüche zu produzieren.

00:15:55: Und was passiert jetzt, wenn der Disclaimer gegen diese Voraussetzungen verstößt,

00:16:00: also nicht nur das ausschließt, was er ausschließen muss unbedingt?

00:16:04: Die Kammer erwähnt als grundlegende rechtliche Rahmenbedingungen für die Formulierung des

00:16:10: Disclaimers bzw. für Patentansprüche ganz allgemein sowohl den Artikel 84 wie auch den Artikel 123 (2) EPÜ.

00:16:20: Und im konkreten Verfahren, das heißt, in dem Verfahren, in dem du versuchst,

00:16:24: diesen Disclaimer einzuführen, ist es natürlich egal, gegen welche Norm ein zu weitgehender

00:16:30: Disclaimer verstößt. Das heißt, wenn du im Einspruchsverfahren den Disclaimer einführst,

00:16:37: ist es eigentlich ziemlich egal, ob das ein Verstoß gegen Artikel 84 oder ein Verstoß gegen

00:16:42: Artikel 123 (2) EPÜ ist. Der Anspruch kann so nicht bleiben und es geht halt weiter zum nächsten Hilfsantrag

00:16:49: oder das Patent wird widerrufen. Im Einspruchsverfahren ist es ganz klar, da ist es egal, aber was ist denn,

00:16:55: wenn so ein Patent im Anmeldeverfahren mit einem nicht ursprungsoffenbarten Disclaimer

00:17:01: abgegrenzt wird und es kommt nachträglich zu einem Einspruchsverfahren, dann ist es ja auf einmal

00:17:06: nicht mehr egal, ob es eine Offenbarungsüberschreitung oder ein Klarheitsproblem ist, oder?

00:17:09: Ganz genau. Wird das Patent mit einem zu weit formulierten nicht ursprungsoffenbarten Disclaimer

00:17:17: erteilt, dann kann ein Einsprechender diesen Umstand nur aufgreifen, wenn auch ein Verstoß gegen

00:17:23: Artikel 123 (2) EPÜ vorliegt, wenn das aber nur eine Unklarheit nach Artikel 84 darstellt,

00:17:30: dann ist es kein Einspruchsgrund und kann nicht mehr aufgegriffen werden. Dasselbe gilt auch im

00:17:36: Verhältnis zwischen einem Einspruchsverfahren, in dem der Disclaimer eingeführt wurde, und einem

00:17:41: nachfolgenden Nichtigkeitsverfahren. Aus der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer geht

00:17:46: nicht 100% klar hervor, gegen welche Voraussetzungen ein nicht ursprungsoffenbarter Disclaimer verstößt,

00:17:55: wenn er zu viel ausschließt. Die Kammern seither, dürften jedoch hier, der für den Inhaber

00:18:02: ungünstigeren Ansicht folgen und auch eine Anfechtung eines zu weiten Disclaimers nach Artikel

00:18:09: 123 Absatz 2 zulassen. Jetzt hat die Große Beschwerdekammer also entschieden, wie die Vorlagefragen zu

00:18:17: beantworten sind. Gehen wir nur wieder zurück zu den Ausgangsfällen. Wie sind denn die beiden

00:18:21: ausgegangen? Im Fall der ersten Vorlagefrage war jetzt strittig, ob die Vorveröffentlichung,

00:18:28: die vom Einsprechenden ins Verfahren gebracht wurde, eine zufällige Vorveröffentlichung ist

00:18:32: oder nicht. Noch kurz zur Erinnerung, das im Stand der Technik offenbarte Glas war zu Bau- und

00:18:39: Ornamentzwecken geeignet und hatte den Vorteil, dass es golden aussieht, obwohl kein Gold drinnen ist.

00:18:45: Die konkreten Eigenschaften, die die Erfindung ausmachten, nämlich die hohe Temperaturbeständigkeit,

00:18:51: die war aber nicht angesprochen. Daher sah die Inhaberin die Vorveröffentlichung

00:18:58: als zufällig und den Disclaimer als zulässig an. Wir waren ja schon bei der Vorstellung der

00:19:03: Ausgangsfälle skeptisch, dass diese Art von Veröffentlichung so weit von der patentierten

00:19:08: Erfindung liegt, dass sie zufällig ist. Wie hat denn die Kammer das nun im Lichter der G 1/03 gesehen?

00:19:14: Ja, die Kammer verneinte die Zufälligkeit der Vorveröffentlichung. Sie meinte zunächst,

00:19:20: dass die Erfindung und der Stand der Technik zum selben technischen Gebiet gehören. In beiden Fällen

00:19:25: ging es um Glasbeschichtungen. Eine sollte golden sein ohne Gold zu verwenden, die andere sollte

00:19:30: leicht biegbar sein, ohne ihre optischen Eigenschaften zu verlieren. Da dieser Stand der Technik auch bei

00:19:36: der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht ausgeschlossen werden konnte, war der Disclaimer

00:19:40: insgesamt unzulässig. Hat denn die Inhaberin dann ihr Patenter damit verloren? Nein, die Inhaberin

00:19:46: hat dann einfach die problematischen Metalle, Titanen-Nitrit und Chrom aus den Listen der

00:19:52: möglichen Materialien im Patentanspruch gestrichen. Das Patent wurde dann also ohne Disclaimer aufrecht

00:19:58: erhalten und die Fassung, die der Patentinhaber dann bekommen hat, war etwas enger und musste

00:20:05: etwas weiter beschränkt werden und zwar auf Merkmale, die auch ursprungsoffenbart waren.

00:20:09: Das heißt, hätte der Patentinhaber das gleich gemacht, dann wäre uns diese Rechtsprechung

00:20:14: der Großen Beschwerdekammer vielleicht mal vorenthalten geblieben. Genau. Schauen wir uns vielleicht den

00:20:19: zweiten Fall an. Hier war es ja keine zufällige Vorveröffentlichung, sondern das Thema war ein

00:20:23: älteres Recht. Wie ist denn das ausgegangen? Im Hauptantrag hat der Inhaber jetzt gleich

00:20:28: zwölf Disclaimer angebracht, der wollte es also wirklich wissen. Die Kammer hat diese Formulierung

00:20:33: auch für zulässig geachtet, weil es ihrer Ansicht nach nicht einfacher möglich war,

00:20:38: den Schutzbereich so zu formulieren. Die Kammer bejahete auch die Zulässigkeit des Disclaimers

00:20:44: im Hinblick auf die Frage, ob dieser eng genug formuliert war, relativ undifferenziert und

00:20:50: ist auch nicht näher darauf eingegangen, ob sich sie um ein Problem des Artikel 123 (2)

00:20:55: oder des Artikel 84 handelt. Also hat in diesem Fall die Disclaimer-Lösung funktioniert und

00:21:01: der Patentinhaber ist glücklich damit geworden? Nein, die Anspruchsfassung war nämlich nicht

00:21:05: neu. Die Inhaberin verfolgt ja das Patent daher in einem Hilfsantrag mit einer Alternative

00:21:09: weiter, die überhaupt keine Disclaimer mehr enthielt. Das war dann auch neu und erfinderisch.

00:21:13: Das heißt also, wir haben zwei Vorlage-Fragenverfahren, in denen es um die nicht ursprungsoffenbarten

00:21:21: Disclaimer geht, aber keines der betroffenen Patente hat nach dem Abschluss der Verfahren

00:21:26: noch einen Disclaimer enthalten. Ja genau, entweder die Voraussetzungen für die Zulässigkeit

00:21:31: des Diskremers waren überhaupt nicht erfüllt, das war im ersten Vorlagefall so, oder die

00:21:36: Ansprüche waren auch mit Disclaimer nicht neu, das war im zweiten Fall so. Scheint überhaupt

00:21:41: so, dass vor allem die Frage der Zufälligkeit der Vorveröffentlichung praktisch nicht vorkommt.

00:21:47: Kannst du uns jetzt noch einmal die wichtigsten Punkte dieser beiden Entscheidungen zusammenfassen?

00:21:51: Mit einem Disclaimer ist es möglich, ganz bestimmte Ausführungsformen aus dem Schutzbereich

00:21:56: eines Patentanspruchs auszuschließen, selbst wenn diese ursprünglich nicht offenbart war

00:22:02: und erst im Laufe des Anmelde- oder Einspruchsverfahrens dem Anmelder oder Inhaber bekannt wird.

00:22:09: Disclaimer kann man grundsätzlich aus drei Gründen einführen, nämlich einerseits um

00:22:13: die Neuheit gegenüber einem älteren Recht herzustellen, andererseits um die Neuheit gegenüber

00:22:18: einer zufälligen Vorveröffentlichung herzustellen und auch um Gegenstände auszuklammern, die

00:22:24: aus nicht technischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen sind.

00:22:28: Unter einer zufälligen Vorveröffentlichung versteht man eine Veröffentlichung, die so

00:22:32: unerheblich für die beanspruchte Erfindung ist und so weit ab von ihr liegt, dass sie

00:22:37: der Fachmann bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte.

00:22:40: Aus formaler Hinsicht ist es wichtig, dass Disclaimer nicht mehr ausschließt als unbedingt

00:22:45: nötig.

00:22:46: Das war ein IP-Courses-Podcast zu den beiden undisclosed Disclaimer Entscheidungen aus

00:22:51: den verbundenen Verfahren G1 und G2 /03 der Großen Beschwerdekammer.

00:22:56: Vielen Dank, Michael, und vielen Dank für Ihre Interesse.

00:22:58: Das war ein IP-Courses-Podcast.

00:23:05: Für Feedback schreiben Sie uns an podcast@ipcourses.org, abonnieren Sie den Podcast und entdecken

00:23:13: Sie weitere Informationen und Kursangebote auf www.ipcourses.org.

00:23:20: [Musik]

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