G 3/14 - "Klarheitseinwände im Einspruchsverfahren" - Entscheidung
Shownotes
In dieser zweiten und abschließenden Folge sprechen Gerd Hübscher und Lukas Fleischer über die verbundenen Entscheidung G 3/14 der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts aus dem Jahr 2015, wobei diese Episode den Leitsatz und den Prozess der Entscheidungsfindung der Großen Beschwerdekammer behandelt.
Definition der Falltypen
Die Große Beschwerdekammer sieht die Vorlagefragen als Frage zur Auslegung des Art 101 (3) EPÜ, der die Prüfung von im Einspruchsverfahren geänderten Unterlagen regelt. Basierend auf den Vorlagefragen werden drei unterschiedliche Falltypen definiert und teilweise Beispiele gegeben:
Typ A i): Fälle, in denen ein abhängiger Anspruch alternative Ausführungsformen enthält (darunter möglicherweise eine oder mehrere bevorzugte), wobei eine davon mit dem zugehörigen unabhängigen Anspruch kombiniert wird.
Beispiel der GBK: Erteilter Anspruch 1 für ein Erzeugnis umfassend X; erteilter Anspruch 2 für ein Erzeugnis nach Anspruch 1, außerdem umfassend eine erhebliche Menge von Y oder [vorzugsweise] Z; geänderter Anspruch für ein Erzeugnis, umfassend X und außerdem eine erhebliche Menge Z. Ein ähnliches Beispiel wären ein abhängiger Anspruch, bei dem ein Stoff aus einer Gruppe von genannten Stoffen ausgewählt werden muss, und ein geänderter unabhängiger Anspruch, bei dem das Erzeugnis dann einen dieser Stoffe umfassen muss.
Typ A ii): Fälle, in denen ein Merkmal aus einem abhängigen Anspruch in einen unabhängigen Anspruch übernommen wird, wobei dieses Merkmal zuvor mit anderen Merkmalen dieses abhängigen Anspruchs verbunden war und nun von ihnen losgelöst ist. In der Vorlage geht es vielmehr um Fälle, in denen eine Änderung nicht zu einem Klarheitsmangel führt, sondern der angebliche Klarheitsmangel bereits in den erteilten Ansprüchen bestand.
Typ B): Fälle, bei denen ein abhängiger Anspruch vollständig in einen unabhängigen aufgenommen wird.
Beispiel der GBK: Erteilter Anspruch 1 für ein Erzeugnis umfassend X; erteilter Anspruch 2 für ein Erzeugnis nach Anspruch 1, das eine erhebliche Menge X umfasst; geänderter Anspruch 1 für ein Erzeugnis umfassend eine erhebliche Menge X. Der Klarheitsmangel könnte natürlich schon im unabhängigen Anspruch bestanden haben, z. B.: erteilter Anspruch 1 für ein Erzeugnis umfassend eine erhebliche Menge X; erteilter Anspruch 2 für ein Erzeugnis nach Anspruch 1, außerdem umfassend Y.
Zusammenfassung
Die Große Beschwerdekammer kommt nach langen Erwägungen zu dem Schluss, dass die herkömmliche Rechtsprechungslinie korrekt ist und im Einspruchsverfahren auch bei Änderungen nur in beschränktem Umfang die Klarheit geprüft werden kann. Eine Klarheitsprüfung ist in keinem der zuvor definierten Falltypen zulässig. Dass aber durch Änderungen verursachte Klarheitsprobleme, also etwa durch die Aufnahme von Merkmalen aus der Beschreibung oder durch eine Zwischenverallgemeinerung von Merkmalen aus abhängigen Ansprüchen, bei der Prüfung im Einspruchsverfahren zu beanstanden sind, war unstrittig und daher nicht Gegenstand der Entscheidung.
Zwei Argumente der Großen Beschwerdekammer sind in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert: Klarheitsmängel können auch im Rahmen der Prüfung anderer Einspruchsgründe (oder nationaler Nichtigkeitsgründe) im Rahmen der Auslegung berücksichtigt werden, indem unklare Merkmale breit ausgelegt werden. Die Beschränkung der Prüfung von Klarheitsmängel im Einspruchsverfahren schafft insofern Rechtssicherheit, als dass sie dem Ermessen der Einspruchsabteilungen und Beschwerdekammern entzogen wird, um eine willkürliche Entscheidungspraxis zu vermeiden und um zu verhindern, dass Verfahren durch eine große Anzahl an Klarheitseinwänden verschleppt werden.
Ausgang des Ausgangsfalls
Da die Große Beschwerdekammer klargestellt hat, dass in Fällen - wie dem Vorlagefall - die Klarheit bei der vollständigen Aufnahme eines abhängigen Anspruchs in einen unabhängigen Anspruch nicht geprüft werden kann, wurde der Klarheitseinwand gegen Hilfsantrag 1 nicht zum Verfahren zugelassen. Der Gegenstand des Anspruchs 1, der eben eine Kombination der ursprünglichen Ansprüche 1 und 3 enthielt, wurde als neu und erfinderisch angesehen, sodass das Streitpatent im Umfang des ersten Hilfsantrags aufrecht erhalten wurde.
Leitsatz
Bei der Prüfung nach Artikel 101 (3) EPÜ, ob das Patent in der geänderten Fassung den Erfordernissen des EPÜ genügt, können die Ansprüche des Patents nur auf die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ geprüft werden, sofern und dann auch nur soweit diese Änderung einen Verstoß gegen Artikel 84 EPÜ herbeiführt.
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00:00:04: Willkommen zum IP-Courses-Podcast, dem Podcast für gewerblichen Rechtsschutz.
00:00:13: Mein Name ist Gerd Hübscher. In der letzten Folge habe ich mit Lukas Fleischer die Vorgeschichte der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 3/14 aus dem Jahr 2015 besprochen.
00:00:22: Und heute sehen wir uns an, wie die Große Beschwerdekammer auf die Vorlagefragen geantwortet hat.
00:00:29: Zusammenfassend ging es hier um eine Erfindung einer Prothesenauskleidung, also einem sogenannten Liner, der eine Schicht aus einem schützenden und gleitfähigen Überzug beinhaltet.
00:00:41: Im Einspruchsverfahren hat die Einspruchsabteilung das Patent vollständig widerrufen und zwar aufgrund mangelnder erfinderischer Tätigkeit.
00:00:48: Auch der Hilfsantrag der Patentinhaberin, nämlich auf eine Kombination aus dem ursprünglichen Anspruch 1 mit dem abhängigen Anspruch 3, wurde nicht zugelassen.
00:00:58: Und zwar unter anderem deswegen, dass das Merkmal des Anspruchs 3,
00:01:02: nämlich dass dieser Liner im Wesentlichen über die gesamte Oberfläche beschichtet sei, nicht klar sei.
00:01:10: Dieser Hilfsantrag wurde von der Patentinhaberin auch im Beschwerdeverfahren aufrechterhalten
00:01:16: und ist insofern relevant, als der Hauptantrag von der Beschwerdekammer ebenfalls als nicht erfinderisch angesehen wird.
00:01:23: In der mündlichen Verhandlung des Beschwerdeverfahrens wird die Unklarheit dieses Hilfsantrags 1 auch geltend gemacht
00:01:31: und eine von einer herkömmlichen abweichende Rechtsprechungslinie von der Einsprechenden angegeben.
00:01:39: Es liegen also die Voraussetzungen für die Vorlage an die Große Beschwerdekammer vor
00:01:45: und auch die Beschwerdekammer nützt diese Möglichkeit.
00:01:50: Im Wesentlichen geht es bei der Vorlagefrage darum, inwieweit Änderungen, die im Einspruchsverfahren von der Patentinhaberin vorgenommen werden, einer Prüfung, insbesondere einer Prüfung auf Klarheit zu unterziehen sind oder nicht.
00:02:07: Lukas Fleischer wird uns jetzt die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vorstellen.
00:02:11: Hallo Lukas.
00:02:12: Hallo Gerd.
00:02:13: Wie ist denn das Verfahren von der Großen Beschwerdekammer abgelaufen?
00:02:16: Grundsätzlich wurde die Vorlage als zulässig erachtet, eben weil mehrere abweichende Rechtsprechungslinien existieren und die Bedeutung für eine Vielzahl von Fällen gegeben ist.
00:02:28: Interessant ist vielleicht, dass die Große Beschwerdekammer entschieden hat, ohne eine mündliche Verhandlung abzuhalten, da keine der Parteien eine mündliche Verhandlung beantragt hat.
00:02:37: Und es wurden, wie es bei solchen Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer üblich ist, auch eine Reihe von amicus curiae Stellungnahmen abgegeben.
00:02:46: neben den Stellungnahmen der Parteien.
00:02:48: Welche Positionen gab es denn in dem Verfahren?
00:02:51: Grundsätzlich gab es zwei Positionen, nämlich einmal diejenigen, die einen engeren Ansatz vertreten haben,
00:02:57: also die wollten, dass die Ansprüche im Einspruchsverfahren nicht generell auf Klarheit zu prüfen sind
00:03:05: und es gab die Gruppe, die eben einen breiteren Ansatz befürwortet hat
00:03:09: und eben ein größeres Ermessen oder einen größeren Prüfungsspielraum der Einspruchsabteilungen
00:03:15: begrüßt hat.
00:03:18: Ich nehme an, die Patentinhaberin hat befürwortet, dass es überhaupt keine Prüfung gibt, gesondert
00:03:23: und die Einsprechende, dass möglichst alles überprüft wird.
00:03:26: Aber wie haben sich denn so die großen Interessensvertretungen positioniert?
00:03:31: Ja, dem vom Inhaber vertretenen engeren Ansatz, also der Überlegung,
00:03:35: dass die Ansprüche ja bereits im Prüfungsverfahren schon umfänglich auf Klarheit geprüft worden sind
00:03:41: und dass doch die mangelnde Klarheit gar kein Einspruchsgrund sei.
00:03:44: Dem hat sich beispielsweise die FICPI angeschlossen.
00:03:46: Die FICPI hat unter anderem angemerkt, dass eine Aufnahme von einem abhängigen Merkmal
00:03:54: eigentlich doch ein Verzicht auf den ursprünglichen unabhängigen Anspruch war
00:03:58: und auf eine Einschränkung auf die verbleibenden Ansprüche.
00:04:02: Zusätzlich wurde noch ausgeführt, dass Artikel 84 nach Ansicht FICPI nur dann zu prüfen sei,
00:04:10: wenn der Klarheitsmangel nicht schon bereits in der erteilten Fassung der Ansprüche vorhanden war.
00:04:16: Auf der Gegenseite, also auf der Position des Einsprechenden, der natürlich gemeint hat,
00:04:21: dass die Einspruchsgründe eigentlich nur für die Eröffnung des Verfahrens da sind
00:04:25: und danach eine komplette Prüfung durchzuführen ist,
00:04:29: stellt sich unter anderem auch überraschenderweise vielleicht der Präsident des Europäischen Patentamts.
00:04:33: Der Präsident argumentiert unter anderem, dass im Rahmen der Revision des EPÜ 2000 auch diskutiert wurde,
00:04:40: ob Artikel 84 nicht ein eigener Einspruchsgrund oder vielleicht zumindest ein Nichtigkeitsgrund für die nationalen Verfahren sein sollte,
00:04:48: also ob quasi auf dieser Ebene die Klarheit zu prüfen sei.
00:04:52: Und daraus wurde geschlossen, dass die Nutzer des europäischen Patentsystems
00:04:57: eben eine Notwendigkeit der Prüfung von Klarheit im Einspruchsverfahren sehen.
00:05:02: Der Präsident hält auch fest, dass die geänderte Fassung im Einspruchsverfahren
00:05:06: ja noch nie vom EPA als solche insgesamt geprüft wurde.
00:05:10: Und daher sei jedenfalls im Einspruchsverfahren die vollständige Prüfung durchzuführen,
00:05:14: um Rechtssicherheit für alle Anwender des Systems zu schaffen.
00:05:18: Wir haben ja bereits bei der Diskussion der Vorlagefragen darüber gesprochen,
00:05:23: dass diese Änderungen unterschiedlich veranlasst sein können,
00:05:25: beziehungsweise unterschiedliche Grade von Änderungen existieren.
00:05:28: Ich kann also entweder aus einem abhängigen Anspruch etwas schöpfen,
00:05:31: ich kann etwas aus der Beschreibung schöpfen,
00:05:32: ich kann Ansprüche gänzlich zusammenziehen oder nur Teile aus Ansprüchen entnehmen.
00:05:38: Wo liegt da die Grenze? Was ist denn eigentlich die Schwierigkeit, die dahinter liegt?
00:05:43: Die
00:05:43: zentrale
00:05:43: Frage ist auf alle Fälle: Wo zieht man die Grenze?
00:05:47: Wo ist der Punkt erreicht, wo man sagt,
00:05:49: das ist schon von der Prüfungsabteilung im Prüfungsverfahren geprüft worden
00:05:53: und das kann ich nicht mehr im Einspruchsverfahren aufgreifen.
00:05:57: Nachdem die mangelnde Klarheit ja kein eigener Einspruchsgrund ist,
00:06:01: muss es doch einen Unterschied geben, wie ich ein Klarheitsproblem behandle.
00:06:07: Und zwar abhängig davon, wie dieses Problem verursacht worden ist.
00:06:13: Ein entscheidender Aspekt, der eigentlich immer mitschwingt, ist,
00:06:18: was ist, wenn dieser Klarheitsmangel bereits im erteilten unabhängigen Anspruch vorhanden war.
00:06:25: In dem Fall könnte doch im Einspruchsverfahren dieser Punkt nicht geltend gemacht werden,
00:06:30: weil die mangelnde Klarheit kein Einspruchsgrund ist.
00:06:33: Wenn ich jetzt aber eine Änderung vornehme, also zum Beispiel nur einen abhängigen Anspruch integriere,
00:06:40: dann müsste ich, wenn ich die Klarheit vollständig prüfe, doch auch prüfen,
00:06:44: ob dieser Klarheitsmangel in den ursprünglichen Merkmalen des unabhängigen Anspruchs vorliegen würde.
00:06:51: Damit hätte man eine Situation geschaffen, in der man den mangelnden Einspruchsgrund quasi umgehen könnte,
00:06:58: indem man einfach dann Probleme aufzeigt oder Probleme diskutiert, die im Anspruch, im erteilten Anspruch schon enthalten waren.
00:07:07: Unstrittig war jedenfalls bei allen Parteien, dass bei Merkmalen, die aus der Beschreibung geschöpft werden,
00:07:14: jedenfalls eine Klarheitsprüfung stattfinden muss,
00:07:18: weil die sich ja bis jetzt einer Prüfung gänzlich entzogen
00:07:20: haben.
00:07:21: Die Große Beschwerdekammer steht also zwischen diesen Positionen,
00:07:25: dass einerseits neu hinzugefügte Merkmale auf Klarheit geprüft werden sollen,
00:07:29: bereits auf Klarheit geprüfte Merkmale, nämlich aus dem Erteilungsverfahren,
00:07:32: aber nicht noch einmal neu geprüft werden sollen
00:07:35: und auch noch im Wechselspiel des Artikel 101 EPÜ,
00:07:39: ob jetzt die Klarheit überhaupt geprüft werden soll, wo sie doch kein Einspruchsgrund ist.
00:07:43: Wie versucht die Große Beschwerdekammer denn diesen Widerspruch aufzulösen?
00:07:46: Ein zentraler Aspekt der Frage der vorliegenden Kammer ist der, wie eben dieser Begriff Änderungen,
00:07:54: wie er in der Entscheidung G 9/91 verwendet worden ist, zu verstehen ist und wie die Prüfung auszulegen ist.
00:08:01: Die Große Beschwerdekammer stellt einmal zuerst richtig, dass es eigentlich gar nicht darum geht,
00:08:07: wie die G 9/91 verstanden werden soll, sondern dass tatsächlich gefragt worden ist,
00:08:13: wie den Artikel 101 Absatz 3 EPÜ auszulegen ist, weil der ja auch der G 9/91 zugrunde liegt.
00:08:21: Um das systematisch angehen zu können, teilt die Kammer hier in unterschiedliche Fallkonstellationen auf
00:08:27: und definiert zwei Typen, einen Typ A und einen Typ B,
00:08:30: so wie auch die Vorlage einen Fall A und einen Fall B konstruiert hat
00:08:35: und unterteilt den Typ A noch in zwei Teilfälle.
00:08:38: Als Typ A1 wird eine solche Konstellation bezeichnet, in der ein abhängiger Anspruch fakulative Merkmale oder alternative Ausführungsformen enthält und nur ein Teil davon in den unabhängigen Anspruch aufgenommen wird.
00:08:52: Der Typ A2 wird so definiert, dass zwar Teilmerkmale aus einem abhängigen Anspruch aufgenommen werden, aber nicht diese neu aufgenommenen Merkmale den Klarheitsmangel begründen, sondern der Klarheitsmangel schon ursprünglich im unabhängigen Anspruch vorhanden war.
00:09:11: Der Typ B ist jetzt eigentlich jener Fall, der konkret zur Vorlagefrage geführt hat, nämlich was ist mit der wortwörtlichen Übernahme von abhängigen Ansprüchen.
00:09:22: Die Große Beschwerdekammer hat zusätzlich noch andere Fallkonstellationen berücksichtigt, die jetzt nicht abgedeckt waren von den Vorlagefragen,
00:09:30: nämlich zum Beispiel, was passiert, wenn ich unabhängige Ansprüche oder ganze Anspruchsgruppen streiche, also unabhängige und davon abhängige Ansprüche.
00:09:39: Was passiert, wenn ich nur abhängige Ansprüche streiche?
00:09:42: Oder was passiert, wenn ich Merkmale oder fakultative Merkmale aus dem erteilten
00:09:46: Anspruch streiche?
00:09:48: Ist das dann auch eine Änderung, die eine Klarheitsprüfung veranlasst?
00:09:51: Die Kammer teilt also in einem ersten Schritt diese Fragestellungen in einzelne Typen auf.
00:09:57: Und wie ordnet sie denn jetzt die bestehenden Rechtsprechungslinien in diese Typen ein?
00:10:03: Ja,
00:10:03: die Große Beschwerdekammer hat sich sehr ausführlich den beiden Rechtsprechungslinien gewidmet.
00:10:08: Zuerst hat sie einmal die herkömmliche Rechtsprechungslinie beleuchtet, also jene ausgehend von der Entscheidung T 301/87, sowie auch die Folgeentscheidungen.
00:10:20: In dieser Rechtsprechungslinie wurde ja die Klarheitsprüfung verneint, wenn die Änderung nur aus dem Zusammenziehen eines unabhängigen Anspruchs mit einem abhängigen Anspruch bestanden hat.
00:10:35: Solche Änderungen wurden in dieser Rechtsprechungslinie teilweise als geringfügige Änderungen oder als nicht sachliche oder nicht wesentliche Änderungen bezeichnet, was aber alles neu geschaffene Rechtsfiguren waren. Gleichbedeutend war auch beispielsweise die Klassifizierung als "satzbauliche Eingliederung".
00:10:57: Die herkömmliche Rechtsprechungslinie geht also davon aus, dass bereits geprüfte Anspruchsmerkmale auch von abhängigen Ansprüchen nicht noch einmal geprüft werden.
00:11:07: Wie sieht jetzt die davon abweichende Rechtsprechungslinie aus?
00:11:11: Bevor sie sich der abweichenden Rechtsprechungslinie als solcher widmet, hat die Große Beschwerdekammer auch noch eine Unterlinie der herkömmlichen Rechtsprechungslinie identifiziert.
00:11:21: Und zwar eine solche, die besagt hat, dass bereits im unabhängigen Anspruch bestehende Klarheitsmängel verborgen sein können und erst durch die Änderung sichtbar oder hervorgehoben werden, zum Beispiel eben aufgrund einer Mehrdeutigkeit im unabhängigen Anspruch.
00:11:37: Was die abweichende Rechtsprechungslinie angeht, so äußert die Große Beschwerdekammer große Bedenken,
00:11:44: denn sie stellt fest, dass sie nicht nachvollziehen kann, auf welcher Rechtsgrundlage die T 1459/05
00:11:53: ihr Ermessen zur Prüfung der geänderten Ansprüche auf Klarheit denn ausüben darf.
00:11:59: Besonders kritisch gesehen wurde die weitreichendste Entscheidung der abweichenden Rechtsprechungslinie,
00:12:05: die durch die Entscheidung T 459/09 begründet wurde.
00:12:10: In dieser Entscheidung wurde quasi eine uneingeschränkte Prüfung der Klarheit im Einzelfall vorgesehen und für gut erachtet,
00:12:16: auch wenn es sich nur um eine Kombination aus erteilten Ansprüchen handelte.
00:12:21: Die Tendenz der Großen Beschwerdekammer ist also schon jetzt recht deutlich.
00:12:25: Jetzt genügt aber die reine Tendenz noch nicht.
00:12:28: Die Große Beschwerdekammer muss ihre Entscheidung ja begründen.
00:12:30: Wie hat sie denn jetzt ihre offensichtlich da schon gefasste Meinung in ein Rechtskleid geworfen?
00:12:37: Die Große Beschwerdekammer hat es durch systematische Betrachtung des Artikel 101 Absatz 3 EPÜ
00:12:44: und auch der vorbereiteten Unterlagen bei der Gesetzgebung gemacht.
00:12:49: Sie ist zum Schluss gekommen, dass Artikel 101 Absatz 3 EPU selbst keine eindeutige Auslegung,
00:12:57: zumindest nicht im Hinblick auf Artikel 84 erlaubt.
00:13:00: Es ist zwar richtig, dass Artikel 84 im Prüfungsverfahren relevant ist und dass die Klarheit eben geprüft werden muss.
00:13:08: Sie hält aber auch fest, dass das europäische Patenterteilungsverfahren keine begründete Entscheidung enthält,
00:13:14: in der die Prüfungsabteilung tatsächlich darlegt, wieso etwas klar ist und wieso nicht.
00:13:20: Auch im Einspruchsverfahren spielt Artikel 84 eine Rolle,
00:13:24: aber es ist klar, dass Artikel 84, also die mangelnde Klarheit, kein eigener Einspruchsgrund ist.
00:13:30: Es gibt also im Artikel selbst keinen Anhaltspunkt darauf,
00:13:35: ob eine vollständige Neuprüfung des Patents im Falle von Änderungen vorgenommen werden soll,
00:13:40: sondern viel eher werden die Änderungen und die Auswirkungen der Änderungen
00:13:44: auf die Einspruchsgründe als relevant angesehen.
00:13:47: Es ist aber auch klar, dass eine Änderung im Einspruchsverfahren selbst
00:13:51: keinen neuen Einwände hervorrufen darf.
00:13:55: Bei der Revision des Europäischen Patentübereinkommens 2000 war ja der Wunsch
00:13:58: nach einer umfassenden Klarheitsprüfung von Änderungen groß,
00:14:03: hat sich die Große Beschwerdekammer auch mit diesem Argument im Detail beschäftigt?
00:14:08: Es ist zwar richtig, dass im EPÜ 2000 der Artikel 101 Absatz 3 geändert wurde,
00:14:13: jedoch nur insofern, als dass eine Rechtsgrundlage für den Widerruf
00:14:18: im Falle der beschränkten Verteidigung geschaffen wurde.
00:14:22: Jene Stelle des Gesetzestextes, die sich aber auf den Umfang der Prüfung bezieht,
00:14:26: wurde nicht geändert.
00:14:28: Es gibt also kein Anzeichen dafür, dass von der vorherrschenden herkömmlichen Rechtsprechungslinie,
00:14:33: die den Gesetzgebern bekannt war, abgegangen werden sollte.
00:14:38: Zwar wurde im Rahmen der Revision des EPÜ 2000 darüber diskutiert,
00:14:41: ob Artikel 84 ein eigener Einspruchsgrund werden sollte, jedoch wurde diese Idee wieder verworfen.
00:14:47: Und Hintergrund dafür war eben, dass die Gefahr eines Verfahrensmissbrauchs erkannt wurde,
00:14:54: nämlich durch eine unzählige Anzahl von Klarheitsmängeln das Einspruchsverfahren einfach durch die reine Quantität zu erschlagen.
00:15:02: Es wurde auch kein nationaler Nichtigkeitsgrund gemäß Artikel 138 EPÜ eingeführt.
00:15:07: Also ist die mangelnde Klarheit nach dem Willen des Gesetzgebers nicht so wichtig wie andere Patentierbarkeitsvoraussetzungen.
00:15:16: Ganz allgemein kommt die Große Beschwerdekammer damit also zum Schluss,
00:15:20: dass Artikel 84 im Einspruchsverfahren keinen genauso großen Einfluss auf das Verfahren haben soll
00:15:26: nach dem Willen des Gesetzgebers wie im Einspruchsverfahren.
00:15:30: Wie positioniert sich denn die Kammer hinsichtlich der Frage der Klarheitsprüfung
00:15:34: bei der bloßen Kombination von erteilten Ansprüchen?
00:15:38: Die Große Beschwerdekammer wendet jetzt diese neu gewonnenen Erkenntnisse auf den konkreten Fall an
00:15:45: und stellt einmal fest, dass es sich jedenfalls auch bei der Zusammenziehung von Ansprüchen um eine Änderung handelt.
00:15:53: Was jedoch die Problematik der Prüfung angeht, und zwar der Prüfung der Merkmale des ursprünglichen unabhängigen Anspruchs,
00:16:02: so hält sie fest, dass eben ohne diese Änderung keine Prüfung der ursprünglichen Merkmale auf Artikel 84 stattfinden hätte dürfen.
00:16:11: Und damit scheint die Prüfung einen willkürlichen Aspekt zu haben.
00:16:15: Zusätzlich, und das ist vielleicht der zentrale Punkt,
00:16:18: der die Große Beschwerdekammer zu ihrer Entscheidung bewogen hat,
00:16:24: haben sowohl das EPA als auch nationale Gerichte eine gewisse Handhabe,
00:16:29: um mit unklaren Merkmalen umzugehen.
00:16:32: Also ein unklares Merkmal an sich ist noch kein Nichtigkeitsgrund als solcher.
00:16:37: Denn unklare Merkmale sind immer auszulegen
00:16:40: und können sich dadurch auf die Beurteilung von anderen Patentierbarkeitsvoraussetzungen auswirken.
00:16:47: Das heißt, wenn ein Merkmal unklar ist, dann muss sich der Patentinhaber vielleicht gefallen lassen,
00:16:53: dass es sehr breit ausgelegt wird und damit dann vielleicht nicht mehr bei der Neuheit
00:16:57: oder bei der Herstellung der erfinderischen Tätigkeit hilft.
00:17:01: Aber damit verschiebt sich doch eigentlich nur das Problem.
00:17:04: Ist das eine gute Lösung oder warum ist es besser, als immer die Klarheitsprüfung durchzuführen?
00:17:10: Was sagt die Große Beschwerdekammer dazu?
00:17:12: Die Große Beschwerdekammer gibt selbst zu, das ist keine optimale Lösung, aber es ist halt so wie sie ist.
00:17:18: Auch hält die Große Beschwerdekammer fest, dass es sich beim Einspruchsverfahren eben nicht um die Fortsetzung eines Prüfungsverfahrens handelt.
00:17:25: Eine Kernkritik an der abweichenden Rechtsprechungslinie ist ja die,
00:17:29: dass die Klarheitsprüfung in Ausnahmefällen oder als Ermessensentscheidung angewandt wurde.
00:17:36: Und ein solches System, bei dem es dann quasi immer vom Einzelfall abhängt,
00:17:40: ob die Kammer eine solche Klarheitsprüfung für notwendig erachtet oder nicht, würde zu einem willkürlichen System führen.
00:17:48: Daher kommt die Kammer letztendlich nach sehr langen Erwägungen zu dem Schluss, den wir alle schon vermutet haben
00:17:54: und der sich durch die gesamte Entscheidung abgezeichnet hat, eine Klarheitsprüfung soll nicht durchgeführt werden,
00:18:00: wenn es sich ausschließlich um die Kombination aus erteilten Ansprüchen handelt.
00:18:05: Damit hat die Große Beschwerdekammer also den Fall B gelöst, der ja auch dem Vorlagefall entspricht.
00:18:12: Bei vollständiger Aufnahme eines abhängigen Anspruchs dürfen weder die Merkmale des ursprünglichen unabhängigen Anspruchs
00:18:18: noch die des ursprünglich abhängigen Anspruchs noch deren Kombination auf Klarheit geprüft werden.
00:18:24: Wie sieht es denn jetzt mit dem Typ A aus, bei dem nur einzelne Alternativen oder Merkmale aus den abhängigen Ansprüchen geschöpft werden?
00:18:32: Die Große Beschwerdekammer sagt
00:18:34: dazu, dass sich Typ A inhaltlich nicht von Typ B entscheidet,
00:18:40: wenn der Klarheitsverstoß nicht durch die Änderung selbst veranlasst wurde.
00:18:44: Also ist auch die Aufnahme von fakulativen Merkmalen und von Teilmerkmalen grundsätzlich okay.
00:18:51: Nur dann, wenn eben das Herausschälen des Teilmerkmals selbst eine Unklarheit verursacht,
00:18:57: dann wäre das zu prüfen.
00:18:58: Aber das, so sagt die Große Beschwerdekammer, war gar nicht Teil der Vorlagefrage.
00:19:03: Somit schließt sich die Große Beschwerdekammer der herkömmlichen Rechtsprechungslinie an und legitimiert die somit.
00:19:10: Was bedeutet das jetzt für unseren Ausgangsfall? Es ist ja selten, dass das Ergebnis zumindest darauf so klar ist.
00:19:18: Das bedeutet doch, die Beschwerdekammer hätte oder darf in dem Fall jetzt die Klarheiten nicht prüfen und damit ist der Klarheitseinwand hinfällig.
00:19:28: Ja genau, wenn man jetzt die Lehre der großen Beschwerdekammer auf den Einzelfall anwendet, dann gibt es kein Klarheitsproblem per Definition und damit ist der Hilfsantrag 1 auf alle Fälle zulässig und kann auf die Patentierbarkeitsvoraussetzungen überprüft werden.
00:19:46: Im Detail kam die Beschwerdekammer dann zum Schluss, dass der Gegenstand des Hilfsantrags 1 erfinderisch war, da aus dem Stand der Technik nur Parylen-Beschichtungen auf der Außenseite des Liners bekannt war.
00:20:00: Und dadurch, dass die Parylen-Beschichtungen jetzt im Wesentlichen der gesamten Oberfläche vorhanden war, war das erfinderisch.
00:20:08: Das Patent wurde somit im beschränkten Umfang gemäß Hilfsantrag 1 aufrechterhalten.
00:20:13: Was kann man denn inhaltlich aus dieser Entscheidung lernen?
00:20:17: Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer stellt klar, dass im Einspruchs- und im Einspruchsbeschwerdeverfahren keine Prüfung auf Klarheit mehr stattfindet, wenn
00:20:25: der aufrechterhaltene Anspruch aus einer reinen Kombination von bereits erteilten Ansprüchen besteht. Diese
00:20:32: Situation mag für den Einsprechenden zwar im Einzelfall sehr unbefriedigend sein, lässt sich aber jedoch unter Umständen über den Umweg der Auslegung entschärfen.
00:20:40: So kann aus einem Klarheitsproblem oftmals auch ein Angriff basierend auf mangelnder Ausführbarkeit,
00:20:46: mangelnder Neuheit oder der mangelnder erfinderischer Tätigkeit aufgebaut werden.
00:20:50: Auf der anderen Seite erhöht sich durch die Entscheidung der Wert der abhängigen Ansprüche für den Patentinhaber,
00:20:56: da die Verteidigung basierend auf abhängigen Ansprüchen im Einspruchsverfahren nicht durch Klarheitseinwände attackiert werden kann.
00:21:02: Im Gegensatz dazu ist das Schöpfen von Merkmalen aus der Beschreibung deutlich riskanter,
00:21:07: da hier Klarheit sehr häufig ein heiß diskutiertes Thema ist.
00:21:13: Das war die zweite Folge zur Entscheidung G 3/14 der Großen Beschwerdekammer aus dem Jahr 2015.
00:21:20: Vielen Dank Lukas und vielen Dank für Ihr Interesse.
00:21:27: Das war ein IP-Courses-Podcast.
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