G 1/99 - Verschlechterungsverbot ("Reformatio in peius") - Entscheidung
Shownotes
In dieser zweiten Folge zur Entscheidung G 1/99 beleuchten Fabian Haiböck und Michael Stadler die Antwort der Großen Beschwerdekammer auf die zentrale Vorlagefrage: Darf der nicht beschwerdeführende Patentinhaber ein (unklares) Merkmal streichen, sodass er ohne Beschwerde einzulegen in eine bessere Position gebracht wurde?
Rückblick – worum ging es in der ersten Folge?
Dort ging es um ein europäisches Patent, das ein Verfahren zur Herstellung retroreflektierender Folien betraf – Materialien, die Licht durch mikroskopisch eingekapselte Glaskügelchen gezielt zur Quelle zurücklenken. Das Patent wurde nach Änderungen im Prüfungsverfahren zunächst erteilt und im Einspruchsverfahren in eingeschränkter Fassung aufrechterhalten. Ein darin eingefügtes technisches Merkmal zum thermischen Verhalten des Bindematerials erwies sich jedoch im Beschwerdeverfahren als unklar. Nur der Einsprechende hatte gegen die erstinstanzliche Entscheidung Beschwerde eingelegt. Der Patentinhaber versuchte daraufhin, das unklare – und einschränkende – Merkmal zu streichen. Dies hätte jedoch zur Folge gehabt, dass der Schutzbereich gegenüber der angefochtenen Fassung erweitert worden wäre.
Vorlagefrage
Muss ein – z. B. durch Streichung eines einschränkenden Anspruchsmerkmals – geänderter Anspruch zurückgewiesen werden, durch den der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde?
Antwort der Großen Beschwerdekammer – G 1/99
Grundsätzlich gilt das Verbot der reformatio in peius: Der Patentinhaber darf im Beschwerdeverfahren nicht besser gestellt werden, als er es durch die angefochtene Entscheidung bereits war. Die Große Kammer formulierte jedoch ein Ausnahmeschema für Fälle, in denen das Patent ohne Korrektur widerrufen werden müsste. Der Patentinhaber darf in solchen Fällen:
- ursprünglich offenbarte, einschränkende Merkmale aufnehmen,
- ausnahmsweise ein ursprünglich offenbartes, aber den Schutzbereich erweiterndes Merkmal aufnehmen (sofern kein Verstoß gegen Art. 123(3) EPÜ),
- und nur wenn solche Änderungen nicht möglich sind in letzter Konsequenz das unzulässige Merkmal streichen, sofern dies Art 123 (3) konform ist.
Verfahrensausgang
Die konkrete Anspruchsfassung wurde letztlich mangels erfinderischer Tätigkeit verworfen. Ein anschließender Überprüfungsantrag blieb erfolglos – die Entscheidung markiert das Ende des Falls T 315/97. Relevanz für die Praxis.
G 1/99 ist ein zentraler Baustein des EPA-Beschwerderechts und definiert die Grenzen der Verteidigungsmöglichkeiten des Patentinhabers, wenn nur der Einsprechende gegen eine Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde führt. Neben materiellen Anforderungen (Art. 123 (2), 123 (3), 84 EPÜ) rückt hier das Verschlechterungsverbot als verfahrensrechtliche Schranke in den Fokus.
Leitsatz
Grundsätzlich muß ein geänderter Anspruch, durch den der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde, zurückgewiesen werden. Von diesem Grundsatz kann jedoch ausnahmsweise abgewichen werden, um einen im Beschwerdeverfahren vom Einsprechenden/Beschwerdeführer oder von der Kammer erhobenen Einwand auszuräumen, wenn andernfalls das in geändertem Umfang aufrechterhaltene Patent als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung für gewährbar erachtet hatte, widerrufen werden müßte. Unter diesen Umständen kann dem Patentinhaber/Beschwerdegegner zur Beseitigung des Mangels gestattet werden, folgendes zu beantragen: - in erster Linie eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung einschränken; - falls eine solche Beschränkung nicht möglich ist, eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung erweitern, ohne jedoch gegen Artikel 123 (3) EPÜ zu verstoßen; - erst wenn solche Änderungen nicht möglich sind, die Streichung der unzulässigen Änderung, sofern nicht gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen wird.
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Transkript anzeigen
00:00:00: Willkommen beim IP Courses Podcast, dem Podcast für europäisches Patentrecht.
00:00:09: Herzlich willkommen, liebes Publikum. Heute darf ich Sie gemeinsam mit Michael Stadler zur
00:00:15: zweiten Folge zur G 1/G99 begrüßen. Michael kannst du uns vielleicht eine kurze
00:00:21: Zusammenfassung über die erste Folge geben, um was ist es denn gegangen und insbesondere,
00:00:26: welche Frage hat denn die Große Beschwerdekammer beantworten müssen?
00:00:29: In dem Vorlageverfahren, das du diese Entscheidung geführt hat, ging es um die Frage, ob die
00:00:36: Beschwerdekammer an den Umfang der Beschwerde gebunden ist, und zwar vor allem dann, wenn nicht der
00:00:42: Patentinhaber, sondern nur der Einsprechende Beschwerde eingelegt hat und nun im Beschwerde-
00:00:48: verfahren der Patentinhaber eine Änderung zur Verteidigung seines Patents vornimmt,
00:00:53: dabei aber den Schutzbereich gegenüber der Fassung erweitert, die im erstinstanzlichen
00:01:00: Einspruchsverfahren aufrechterhalten wurde. Das wird auch als das Verschlechterungsverbot
00:01:04: bezeichnet und da man hierfür gern lateinische Begriffe verwendet, spricht man hier auch vom
00:01:10: Verbot der "reformatio in peius". Um die Frage jetzt ganz wörtlich wiederzugeben und den
00:01:16: Einstieg zu finden, muss ein geänderter Anspruch, der den einsprechenden und alleinigen Beschwerdeführer
00:01:22: in eine schlechtere Lage versetzen würde, als wenn er keine Beschwerde eingelegt hätte,
00:01:28: zum Beispiel durch Streichung eines einschränkenden Merkmals zurückgewiesen werden.
00:01:32: Also im Prinzip soll die "reformatio in peius" ganz ganz strikt durchgezogen werden.
00:01:38: Genau, ja.
00:01:39: Das war die erste Frage. Okay.
00:01:42: Das war die einzige Frage.
00:01:43: Das war die einzige Frage.
00:01:44: Das war die einzige Frage.
00:01:45: Es gibt nur eine Frage. Ja, okay, jetzt wird es mir nun interessieren. Ist die Antwort
00:01:52: so einfach wie die Frage der Großen Beschwerdekammer? Oder wie wird die große Beschwerdekammer
00:01:57: darüber sinniert?
00:01:58: Die Beschwerdekammer antwortet etwas länger. Ich gehe mal davon aus, wer sich zur anderen
00:02:04: Meinung gekommen, hätte sie genauso kurz geantwortet, nämlich gesagt, es gibt Teilrechtskraft,
00:02:10: es gibt ein Verschlechterungsverbot. Daher geht das nicht.
00:02:13: So war es aber nicht.
00:02:15: So war es aber nicht. So war es nicht, ja.
00:02:17: Also wir haben eine Ausnahme der "reformatio in peius".
00:02:21: Wir haben eine Ausnahme von der "reformatio in peius", ja. Jetzt ist die Frage, sprechen
00:02:26: wir zuerst über das, was sie die Kammer gedacht hat oder sprechen wir zuerst, wie es
00:02:29: ausgegangen ist.
00:02:30: Vielleicht sagen wir mal, wie hat sie entschieden? Dann, was hat sie dabei gedacht und dann
00:02:36: nur mal kurz Zusammenfassung, deswegen hat sie entschieden. Dann können wir beide
00:02:40: Varianten.
00:02:41: Ja, die Große Beschwerdekammer hat gesagt, grundsätzlich gibt es ein Verschlechterungsverbot.
00:02:46: Also grundsätzlich muss ein geänderter Anspruch durch den, der Einsprechende und
00:02:51: alleinige Beschwerdeführer schlechter gestellt würde, als ohne Beschwerde zurückgewiesen
00:02:55: werden.
00:02:56: Also "reformatio in peius" hat seinen Sinn.
00:02:59: Hat seinen Sinn, dem Grundsatz nach gibt es die.
00:03:03: Okay.
00:03:04: Und jetzt kommt aber, und deswegen ist die Entscheidung lange geworden, sonst hätten
00:03:08: wir einfach sagen können, es muss ohne grundsätzlich, aber genau. Von diesem Grundsatz kann
00:03:15: jedoch ausnahmsweise abgewichen werden, um bei einem den Beschwerdeverfahren vom Einsprechenden
00:03:20: oder von der Kammer erhobenen Einwand auszuräumen, in unserem Fall der Klarheitseinwand. Wenn
00:03:25: andernfalls das im geänderten Umfang aufrechterhaltende Patent als unmittelbare Folge einer unzulässigen
00:03:32: Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung für gewährbar
00:03:37: erachtet hatte, wiederrufen werden müsste.
00:03:39: Das heißt, man darf sich dann ein bisschen, man darf die Schuld ein bisschen auf die
00:03:43: Einspruchsabteilung schieben. Die haben sich schon gewährt und somit bin ich als Patentinhaber.
00:03:50: Da trifft mich maximal ein Teilschuld. Die Einspruchsabteilung hat sich auch als gewährbar
00:03:54: gesehen und das soll schon mal ein Grund sein, warum die "reformatio in peius" nicht immer so
00:04:00: ganz strikt anwendbar ist.
00:04:02: Genau. Also notwendig ist wirklich, dass das in der Einspruchsabteilung, also von der
00:04:07: Einspruchsabteilung für zulässig erachtet wurde. Vor dem Hintergrund, die Einspruchsabteilung
00:04:12: hat in dieser Entscheidung ja selbst ziemlich herumgedoktert hat.
00:04:15: Das gibt es wahrscheinlich jetzt einfach nicht mehr, weil das selbstständige Herumdoktern
00:04:20: von der Einspruchsabteilung, also bin ich nicht gewohnt.
00:04:24: Das nicht mehr, aber selbstverständlich gibt es es noch insofern, als die Einspruchsabteilung
00:04:28: halt zustimmt zu dem, was du selbst vorlegst. Das geht natürlich schon.
00:04:34: Und dann wird also jetzt, man sagt da nicht, das geht jetzt immer und ich kann diese unzulässige
00:04:41: Änderung rückgängig machen, sondern unter diesen Umständen kann dem Inhaber zur Beseitigung
00:04:46: des Mangels Folgendes gestattet werden zu beantragen.
00:04:50: Jetzt kommt eine Kaskade.
00:04:52: Eine Kaskade, genau.
00:04:54: Und dann haben wir in erster Linie eine Änderung durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte
00:05:00: Merkmale aufgenommen wurden.
00:05:01: Das wird enger, das Schutzbereich wird enger.
00:05:03: Das heißt in erster Linie muss man schauen, kann ich es enger machen, ja oder nein.
00:05:08: Nur dann, falls eine solche Beschränkung nicht möglich ist, also gäbe es die Beschränkung,
00:05:12: dann müsstest du das Patent einschränken, es gibt weiterhin das Verschlechterungsverbot
00:05:16: und gut ist es, ja.
00:05:18: Also das spricht dann eigentlich nichts gegen die anderen Großen Beschwerdekammer-Entscheidungen.
00:05:24: Es kommt zu keiner Verschlechterung vom einzigen Beschwerdeführer.
00:05:28: Genau.
00:05:29: Das heißt, insofern ist es natürlich eine Möglichkeit, die man machen kann, aber jetzt
00:05:35: kein Widerspruch, ja.
00:05:36: Also das ist jetzt keine Ausnahme vom Verschlechterungsverbot, das steht halt einfach nur so da.
00:05:41: Ich sehe jetzt nicht, dass man das nicht ohnehin hätte machen können, ja.
00:05:46: Das zweite ist, falls eine Beschränkung nicht möglich ist, Änderung durch die ein oder
00:05:52: mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden, nicht gestrichen, ja.
00:05:58: Die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung erweitern, ohne jedoch
00:06:03: gegen Artikel 123 (2) EPÜ zu verstoßen.
00:06:05: Das ist für mich ein bisschen schwarz vorzustellen, ich nehme was auf und schränke nicht ein.
00:06:12: Ja, vielleicht, oder Variante, ich weiß es auch nicht genau, was die Kammer damit meint,
00:06:19: aber was schon immer die äußerste Grenze ist, und das haben wir durch die G 1/93
00:06:24: gesehen, das ist Artikel 123 (3) EPÜ, also Schutzbereichserweiterung gibt es nie.
00:06:27: Das hat nicht einmal die G 1/99 aufgehoben, ja.
00:06:33: Gott sei Dank.
00:06:34: Und dann haben wir natürlich unseren Fall, um den es eigentlich geht und auf den das
00:06:39: Ganze zugeschnitten ist, nämlich erst wenn eine solche Änderung nicht möglich ist,
00:06:43: die Streichung der unzulässigen Änderung, sofern wieder nicht gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen
00:06:49: wird.
00:06:50: Okay, dann haben wir jetzt wirklich...
00:06:51: Das ist jetzt genau unser Fall, die Streichung des unklaren Merkmals, daran liegt die unzulässige
00:06:55: Änderung.
00:06:56: Interessant ist auch, wenn du das nur so liest, dann gehst du normalerweise davon aus, dass
00:07:01: die unzulässige Änderung eigentlich eine Überschreitung der Offenbarung ist, ist aber
00:07:07: hier nicht notwendigerweise gemeint, die allermeisten Entscheidungen, die ich im Nachgang
00:07:12: zu dem kenne bzw. auch selbst mitgewirkt habe, bei denen ging es immer um 123 (2) EPÜ und Verschlechterungsverbot,
00:07:22: die ursprüngliche Entscheidung stammt aber wirklich aus einer Situation, wo man Artikel
00:07:26: 84 EPÜ Probleme hatten, es ändert in Wahrheit nichts.
00:07:30: Ja, es ist auf beide Fälle anwendbar.
00:07:32: Okay, die Kaskade habe ich soweit verstanden, du hast gesagt, die Entscheidung war nicht
00:07:38: so kurz wie die Frage, sprich ich gehe davon aus, dass da eine gewisse Begründung auch
00:07:42: noch gefolgt ist, wie lautet die?
00:07:44: Genau, also die Begründung war relativ umfangreich, das erste war einmal ganz klar, wenn nur der
00:07:51: Einsprechende Beschwerde eingelegt hat, dann ist der Patentinhaber zwar beteiligt am Beschwerde-
00:07:56: verfahren, das ist ganz klar als Artikel 107 EPÜ, er darf aber grundsätzlich keine bessere
00:08:02: Position bekommen.
00:08:03: Also vor diesem Grundsatz will man eigentlich nicht wirklich runtersteigen, das zeigt sehr
00:08:07: ganz klar an der Beschwerdekammer-Entscheidung, das heißt, das Patent darf nicht in einer
00:08:14: Form aufrechterhalten werden, die für den Patentinhaber günstiger ist im Vergleich zu
00:08:19: dem, was die Einspruchsabteilung gesagt hat, eben deswegen, weil er selbst kein Rechtsmittel
00:08:23: eingelegt hat, man kann sich das so vorstellen, so von einer großen Linie zwischen der Patentinhaber
00:08:31: siegt voll und der Einsprechende, siegt voll, gibt es in erster Instanz ja unentschieden,
00:08:35: also irgendwo in der Mitte und wenn du keine Beschwerde einlegst gegen die Entscheidung,
00:08:38: dann spielt sich das Spiel eben dann nur mehr zwischen der Maximalposition des Gegners
00:08:43: und dem, ob was du in erster Instanz erreicht hast.
00:08:47: Gut, und dann war natürlich die nächste Frage, wie ist eigentlich das Beschwerdeverfahren,
00:08:53: was ist das eigentlich, dieses Beschwerdeverfahren, ist es und da gab es auch ursprünglich bis
00:08:58: zu den zwei Entscheidungen davor, gab es zwei Sichtweisen, was ein Beschwerdeverfahren ist,
00:09:03: das eine ist jetzt einfach nur ein besseres Verwaltungsverfahren, also die Beschwerdekammer
00:09:10: setzt ihre Rechtsmeinung sozusagen an die Stelle dessen, was die Einspruchsabteilung
00:09:14: tut und wenn eine Partei jetzt Beschwerde einlegt, dann aktiviert man sozusagen die Beschwerdekammer
00:09:21: und die schaut sich das nach allen Richtungen an oder und das ist die Linie, die sie natürlich
00:09:25: durchgesetzt hatte, das ist die, dass die Beschwerdekammer verwaltungsgerichtlich agiert,
00:09:30: nämlich nur insofern die Entscheidung überprüft, als die Parteien das auch wollen. Wenn einer das
00:09:37: nicht will, dann ist die Beschwerdekammer einfach daran gebunden. Der Patentinhaber darf in der
00:09:43: Situation, wenn er selbst nicht Beschwerdeführer ist, damit zwar Änderungen vorlegen, um sich zu
00:09:48: verteidigen, damit es nicht noch schlechter wird für ihn, aber er kann eben nicht besser werden.
00:09:52: Welche widersprüchlichen Entscheidungen hat es jetzt überhaupt gegeben?
00:09:55: Es gab einige Entscheidungen, die relativ streng waren, was das Verschlechterungsverbot betrifft,
00:10:01: das war zum Beispiel die T 579/94, die hat einfach gesagt, eine Erweiterung, wie auch immer
00:10:09: sie passiert, verstoßt gegen das Verschlechterungsverbot und ist daher absolut unzulässig. Es gab aber
00:10:14: auch andere Entscheidungen, die da ein bisschen vermittelndere Positionen eingenommen haben,
00:10:19: eher patentinhaberfreundlich, die gesagt haben, eine Änderung darf zugelassen werden, wenn sie
00:10:24: angemessen und notwendig ist, um einen Mangel zu beheben und es ging in den allermeisten Fällen um
00:10:30: mangelnde Klarheit und um Artikel 123 (2) EPÜ. Und zwar auch dann, wenn sie den Schutzbereich
00:10:38: erweitert, gegenüber der Fassung, die die Einspruchsabteilung hat entschieden hat,
00:10:43: in erster Instanz. Daher hat man hier eine uneinheitliche Rechtsprechung.
00:10:46: Okay, die Große Beschwerdekammer hat das dann abgewogen und hat sich ja, du hast die Antwort
00:10:54: hier schon vorweg genommen, hat sie dann für eine Zwischenlösung entschieden.
00:11:00: Genau, also angemessen und notwendig ist jetzt etwas zu weit. Dann würde man zumindest in der
00:11:07: Hinsichtlich dieses Überprüfungscharakters völlig aufweichen und praktisch so einen Amtsermittlungsgrundsatz
00:11:16: einführen, dass die Beschwerdekammer einfach als bessere Prüfungsabteilung sich alles nach
00:11:20: allen Richtungen noch einmal anschaut, sondern man wollte diesen Dispositionsgrundsatz, also
00:11:24: dass die Parteien das Verfahren beherrschen und wenn einer halt nicht Beschwerde einlegt,
00:11:28: dann ist er halt nicht Beschwerdeführer und kann nicht darüber hinaus. Den wollte man hier
00:11:32: eigentlich stärken. Die Kammer hat aber gesehen, dass es dann Situationen gibt, die halt zu ihrer
00:11:40: Ansicht nach wirklich völlig unangemessenen Ergebnissen führen, nämlich genau der unseren,
00:11:44: also wenn jemand von der Einspruchsabteilung sozusagen das okay kriegt, die also sagt, na gut,
00:11:51: es ist in Ordnung, das ist klar, das ist neu, das ist erfinderisch, überschreitet auch nicht die
00:11:57: Offenbarung, dann geht es in die Beschwerde, man legt selbst keine Beschwerde ein und dann kommt
00:12:03: man darauf, das Merkmal ist doch unklar, dann bleibt das Merkmal natürlich unklar, das ist
00:12:09: völlig unbestritten, die Beschwerde kann man halt insofern recht, aber dann ist man zumindest in
00:12:13: der Lage, da rauszukommen, indem man es ändert. Ja, es ist gerade bei der Klarheit aus meiner
00:12:18: Sicht ist es immer sehr subjektiv, also objektive Bemessung, ob das jetzt klar ist oder nicht,
00:12:23: ist schwierig, gibt es glaube ich auch nicht. Es ist die unangenehmste Situation, die da hier
00:12:28: natürlich passieren kann, dass dann zum ersten Mal die Beschwerdekammer in der mündlichen Verhandlung
00:12:32: darauf kommt, dass dieses Merkmal über das immer schon diskutiert wurde, dass das unklar ist,
00:12:38: dann hast du natürlich völlig Pech gehabt. Okay, ja im vorliegenden Fall, also wir haben
00:12:49: schon eingangs gehört, die Große Beschwerdekammer gesagt, ja grundsätzlich "reformatio in peius",
00:12:54: das ist der Grundsatz, es gibt aber Ausnahmen, die Große Beschwerdekammer hat gesagt, ja es gibt
00:12:58: eine Kaskade abzuhandeln, zuerst soll man ein einschränkendes Merkmal aufnehmen, das wäre quasi
00:13:03: das Idealszenario zumindest, um nicht gegen diese "reformatio in peius" zu verstoßen, wenn das nicht
00:13:11: funktioniert, dann kann man ein Merkmal aufnehmen, das den Schutzbereich erweitern würde, aber bitte
00:13:17: 123 (3) EPÜ das gilt immer noch und das dritte, die letzte Möglichkeit wäre wirklich dieses in
00:13:26: dem Fall unklare Merkmal zu streichen, auch wenn es den einzigen Beschwerdeführer schlechter stellen
00:13:33: würde, aber auch hier gilt die Maxime von Artikel 123 (3) EPÜ. Wie ist dann dem Beschwerdeverfahren weitergegangen?
00:13:39: Der Fall geht natürlich zurück an die vorliegende Beschwerdekammer, das heißt die Große Beschwerdekammer
00:13:44: entscheidet nicht den Fall, sondern sie beantwortet eben nur die Vorlagefrage, der Tenor oder der
00:13:49: Spruch der Entscheidung ist eben die Antwort und der Patentinhaber, der reichte jetzt neue
00:13:55: Anspruchsfassungen als Hauptantrag und auch drei Hilfsanträge ein. In einer ersten Fassung
00:14:02: fehlte ein Merkmal, das im erteilten Anspruch 1 enthalten war und zwar fehlte da das Merkmal,
00:14:10: dass diese Bindeschicht mit den Linsen in Kontakt gebracht wird völlig und diese
00:14:18: Streichung, die hat einfach den Schutzbereich erweitert. Also dann haben wir ein Artikel 123 (3) EPÜ
00:14:23: also es wirkt fast so aus, hätte er die Große Beschwerdekammer Entscheidung völlig ignoriert. Ja,
00:14:27: zumindest was den Hauptantrag betrifft, war das wohl so, aber dann kam eh der erste Hilfsantrag.
00:14:34: Hier hat man dann das unklare Viskositätsverhalten des Materials präzisiert, hat dann also Bezug
00:14:42: genommen und so weiter und letztendlich konnte er von der Beschwerdekammer erreichen, dass das
00:14:49: Merkmal klar und zulässig und ursprungsoffenbart war, das heißt er hat erreicht, dass das Verbot
00:14:56: der "reformatio in peius", also das Verschlechterungsverbot jetzt nicht verletzt war. Das unklare Viskositätsmerkmal,
00:15:03: also das Merkmal dieses unklaren Viskositätsverlaufs, wurde präzisiert und im Ergebnis war die Sache
00:15:09: dann auch klar und zulässig und diese Präzisierung, sei es jetzt Streichung oder Hinzufügung von
00:15:16: Merkmal oder eine Mischung davon, hat jetzt auch den Kriterien genügt, die die Große Beschwerdekammer
00:15:21: aufgestellt hat. Es lässt sich jetzt nicht so ganz sagen, ob seine reine Streichung oder reine
00:15:25: Hinzufügung war, im Endeffekt hatten wir aber mit dem Verschlechterungsverbot, so wie es die
00:15:31: Große Beschwerdekammer gesehen hat, kein Problem. Auch der Schutzbereich war nicht erweitert worden
00:15:37: gegenüber der erteilten Fassung. Okay, das heißt wir erfüllen jetzt gerade die Kriterien der G 1/99,
00:15:44: wir erfüllen somit auch implizit die Kriterien von Artikel 123 (3) EPÜ und alle anderen Kriterien sind
00:15:51: auch durchgewunken worden von der Beschwerdekammer. Nicht so schnell, okay, okay, okay. Jetzt hat
00:15:56: die Kammer natürlich begonnen Artikel 56 zu prüfen und man ist drauf gekommen, naja,
00:16:05: da gab es ein Dokument, ich mag jetzt eine zu sehr ins Detail gehen, aber es gab da wohl ein
00:16:10: Dokument, das auch das nahe legte und damit lag keine erfinderische Tätigkeit vor und der
00:16:16: Antrag wurde aus dem Grund zurückgewiesen. Oi, das ist irgendwie unbefriedigend, da geht es um
00:16:22: so viel Formalkriterien und dann kommt es hier und da wieder doch auf das Wesen unseres Berufs an,
00:16:30: nämlich um die Frage, ob ein Gegenstand erfinderisch ist oder nicht. Ganz genau, ja. Es war
00:16:39: also wirklich bitter, so viel an argumentativen Aufwand da reinzustecken und im Endeffekt kommt
00:16:47: man dann auf das komplett profane Ergebnis, dass das aus irgendeinem Grund nicht erfinderisch ist.
00:16:51: Hätte man auch leichter bekommen können, unaufwendiger, sag ich mal. Absolut, ja, die
00:16:57: Kammer hat sich da natürlich Mühe gegeben, aber unaufwendiger, man muss schon sagen der Patentinhaber
00:17:02: hat sich natürlich gewährt mit allen Mitteln und eben soweit, wie es notwendig war und bislang
00:17:07: war es eben nicht notwendig, die erfinderische Tätigkeit zu prüfen, zumindest nicht in der
00:17:10: Auffassung und es wurde hier zum ersten Mal geprüft und der Antrag war dann eben unzulässig.
00:17:15: Okay, also keine erfinderische Tätigkeit aus meiner Sicht, es ist somit verloren für den
00:17:24: Patentinhaber oder hat er sich dann doch noch weiter gewährt? Er hat es noch weiter versucht,
00:17:27: er hat noch einen zweiten und dritten Hilfsantrag in das Verfahren eingebracht. Damals war das
00:17:33: auch noch relativ einfacher, wobei nach einer Entscheidung der Großen Beschwerdekammer wird
00:17:37: man dem Patentinhaber möglicherweise noch erlauben, ausnahmsweise hier neue Hilfsanträge
00:17:44: einzubringen. Problem war, beide Anträge ließen dieses Viskositätsmerkmal jetzt wieder weg,
00:17:49: wodurch er Erweiterung des Schutzbereichs stattgefunden hat und damit war das unzulässig.
00:17:56: Außerdem und die Kammer war ja sehr, sehr sorgfältig, selbst wenn hätte keine erfinderische
00:18:02: Tätigkeit vorgelegen, also auch das haben sie. Also Sie haben, Sie haben es nochmal doppelt abgesichert.
00:18:07: Okay, das heißt jetzt haben wir es aber geschafft, das Verfahren ist wohl oder das Verfahren geht wohl
00:18:15: im Ende zu, ist das korrekt? 3M hat sich damit immer noch nicht zufrieden gegeben. Das Patent war dem
00:18:20: Inhaber offenbar sehr wichtig und die haben dann am 5. September 2002 noch einen Überprüfungsantrag,
00:18:27: also eine "Petition for Review" bei der Großen Beschwerdekammer eingereicht, gestützt auf eine
00:18:32: angeblich schwerwiegende Verfahrensverletzung. Nämlich? Nämlich sie seien da wohl also im Verfahren
00:18:41: nicht ausreichend gehört worden. Also der zweite, der dritte, der vierte Hilfsantrag nach der Großen
00:18:48: Beschwerdekammer, das ist genügt immer noch nicht im rechtlichen Gehör. Genügt immer noch nicht,
00:18:52: die haben beantragt die Wiedereröffnung des Verfahrens vor der Beschwerdekammer. Die hilfsweise
00:18:57: weitere Hilfsanträge auf mündliche Verhandlung und auch eine Umwandlung des europäischen Patents
00:19:02: in nationale Anmeldungen. Und interessanterweise wollten die auch hilfsweise die Aussetzung bis zu
00:19:08: mit Kraft treten des EPÜ 2000, weil dann gibt es nämlich diese Möglichkeit der "Petition for Review"
00:19:14: auch wirklich. Okay, okay, das hat sich schon ein bisschen vorgegriffen, haben da sie einem
00:19:21: Rechtsmittel beholfen, das eigentlich tatsächlich noch gar nicht gegeben hat. Genau, die Überprüfung
00:19:26: ist ja mit dem EPÜ 2000 eingeführt worden, das heißt 2002, wo diese Entscheidung dann eben
00:19:31: rausgekommen ist, da wusste man schon was da kommt. Also eingeführt wurde diese Überprüfungsmöglichkeit
00:19:37: aber erst später, nämlich Ende 2007. Und die Kammer hat es dann auch relativ schnell abgebügelt,
00:19:44: hat gesagt ja schön, dass das möglicherweise kommt, derzeit ist es nicht so. Und ja, damit war
00:19:51: das dann. Damit dann tatsächlich nicht durchgedrungen. Ich trau mir jetzt nicht mehr fragen, war das das
00:19:55: Ende? Ja, das war jetzt wirklich das Ende. Okay, sehr, sehr interessant, sehr komplex. Ich glaube,
00:20:02: es ist Zeit für eine kurze Zusammenfassung. Wir reden doch schon ein Zeiterl drüber. Also,
00:20:05: wir haben uns heute mit der G 1/99 beschäftigt und mit der grundlegenden Frage,
00:20:10: inwiefern die "reformatio in peius" tatsächlich gilt. Die Große Beschwerdekammer hat festgestellt,
00:20:18: dass nach wie vor an der "reformatio in peius" anzuhalten ist. Es gibt aber in sehr speziellen Fällen
00:20:25: eine Ausnahme. Michael, kannst du das noch mal versuchen, diese Ausnahmen ganz kurz und knackig
00:20:31: für unsere Zuhörer zu wiederholen? Ich glaube, es ist ein gelungenes Ende dann. Genau, als erstes
00:20:36: musst du versuchen, die "reformatio in peius" überhaupt nicht zu benötigen. Das heißt, ich muss als erstes
00:20:43: schauen, gibt es nicht irgendwelche ursprungsoffenbarten Merkmale, die den Schutzbereich einschränken. Das heißt,
00:20:49: wenn auch immer das funktioniert, dann muss ich gar nicht in die Verlegenheit kommen. Das ist das
00:20:56: erste, was die Kammer sozusagen fordert. Falls das nicht möglich ist, dann kann ich ursprünglich
00:21:01: offenbarte Merkmale, die den Schutzbereich gegenüber der aufrechterhaltenen Fassung erweitern,
00:21:07: aufnehmen, erste Variante oder zweite Variante, Merkmale, die ich aufgenommen habe, wieder
00:21:13: streichen. Das heißt, ich kriege den Schutzbereich dann zwar erweitert, aber niemals gegenüber
00:21:18: der erteilten Fassung. Also Artikel 123 (3) EPÜ ist immer meine letzte Grenze. Vielleicht noch ein
00:21:27: praktischen Punkt. Man hat als Einsprechende immer so das Repertoire an Möglichkeiten, wie man dem
00:21:33: Patentinhaber das Leben möglichst schwer macht, wenn der mit Hilfsanträgen daher kommt. Und in
00:21:39: erster Instanz gibt es da die üblichen Verdächtigen: Artikel 123 (2) EPÜ, Artikel 123 (3) EPÜ, Artikel 84 EPÜ, die
00:21:47: Klarheit und die Verspätung, dass also die üblichen Verdächtigen sind. Ja, so weit so gut. In der
00:21:53: Beschwerde habe ich als Einsprechender und einziger Beschwerdeführer, das ist die Voraussetzung,
00:22:00: neben dem noch strengeren Verspätungsregime eben auch noch das Verschlechterungsverbot,
00:22:05: mit dem ich dem Patentinhaber das Leben schwer machen kann. Ist es was, was deiner Erfahrung
00:22:10: noch amtsseitig geprüft wird oder gehört das immer beantragt? Ich würde darauf hinweisen, wenn es
00:22:14: geht. Ich glaube, die Beschwerdekammer müsste das grundsätzlich auch von sich aus rügen, so wie
00:22:19: sie auch an Verstoß gegen Artikel 84 EPÜ von sich aus rügen wird. Also die sind da nicht schüchtern
00:22:27: und werden da das schon mitteilen. Aber als Einsprechender und Beschwerdeführer würde
00:22:30: ich natürlich separat darauf hinweisen. Okay, verstanden. Das heißt, wir nehmen uns heute
00:22:34: auch noch einen kleinen Praxistipp mit, der uns sozusagen die Toolbox ein bisschen erweitert. Ich
00:22:40: glaube, es war eine wunderschöne Folge über die "reformatio in peius". Sehr ausführlich haben
00:22:47: wir darüber gesprochen, aber ich glaube, es ist ein Thema, das sehr viel hergibt, vor allem bei dem
00:22:52: witzigen Verfahrensverlauf möchte ich was zeigen. Michael, vielen Dank für deine Expertise und bis
00:23:00: bald. Bis bald. Das war ein IP Courses Podcast. Für Feedback schreiben Sie uns an podcast@ipcourses.org,
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00:23:19: www.ipcourses.org.
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