T 602/24 - 2-Komponenten-Polyurethansystem (wesentliche Merkmale)

Shownotes

In dieser Folge sprechen Fabian Haiböck und Lukas Fleischer über die Entscheidung T 602/24 einer Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts vom 14. April 2025, die eine Beschwerde gegen eine Entscheidung der Prüfungsabteilung des EPA zum Gegenstand hat. Der Anmeldetag der Patentanmeldung ist der 25. Februar 2013 - die Zurückweisungsentscheidung ist auf den 3. November 2013 datiert.

Erfindung

Die ursprüngliche Erfindung betrifft eine Zwei-Komponenten-Polyurethan-Zusammensetzung, die während des Vermischens eine gewisse Heterogenität aufweisen soll, um eine Verteilung der Zusammensetzung in einer Form zu ermöglichen, bevor die Vernetzungsreaktion einsetzt.

Prüfungsverfahren

Im Verlauf des langen Prüfungsverfahrens, in dem bis zur mündlichen Verhandlung neun Prüfungsbescheide erlassen wurden, wurden die Patentansprüche auf ein Verfahren zum Herstellen von Faserverbundwerkstoffen unter Verwendung einer Zwei-Komponenten-Polyurethan-Zusammensetzung gerichtet.

Die Prüfungsabteilung stützte ihre Zurückweisungsentscheidung auf mangelnde Klarheit des Merkmals

"dass die vernetzte Zusammensetzung eine Glasübergangstemperatur Tg über 60°C, gemessen mit DSC, DIN 11357, aufweist"

Dieses Merkmal wurde als unklar befunden, da laut Auffassung der Prüfungsabteilung essentielle (eigentlich wesentliche" Merkmale fehlen, da aus dem Anspruch nicht hervorgeht, wie die Glasübergangstemperatur erreicht werden soll. Die Hilfsanträge wurden wegen mangelnder Neuheit gegenüber dem Stand der Technik zurückgewiesen.

Leitsatz der Entscheidung der Beschwerdekammer

"Die wesentlichen Merkmale der Erfindung gemäß Regel 43(3) EPÜ sind diejenigen, die der Anmelder als wesentlich für den beantragten Patentschutz ansieht, und nicht diejenigen, die die Prüfungsabteilung als ausreichend erachtet, um materiellrechtliche Erfordernisse zu erfüllen."

Beschwerdeverfahren

Die Beschwerdekammer prüfte im Rahmen des Beschwerdeverfahrens die bisherige Rechtsprechung und stellte sich auf den Standpunkt, dass es sich bei den Erfordernissen der Regel 43 (3) EPÜ, dass ein unabhängiger Anspruch alle wesentlichen Merkmale enthalten muss, um eine formale Anforderung und nicht um eine materiell-rechtliche Voraussetzung handelt. Da die Patentanmeldung den beanspruchten Gegenstand - auch in Hinblick auf die Einstellung der Glasübergangstemperatur - so deutlich offenbart, dass der Fachmann sie nacharbeiten kann, also ausführbar im Sinne des Art 83 EPÜ ist, und die Stützung der Ansprüche durch die Beschreibung gemäß Art 84 Satz 2 EPÜ (formal) gegeben ist, wurde die Zurückweisungsentscheidung aufgehoben.

Die Beschwerdekammer stellte auch die Neuheit der Ansprüche fest und verwies zur Überprüfung der erfinderischen Tätigkeit an die Prüfungsabteilung zurück.

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Transkript anzeigen

00:00:03: Willkommen beim IP-Courses-Podcast, dem Podcast für europäisches Patentrecht.

00:00:12: Liebe Zuhörer, zugegeben, ich bin ein bisschen nervös. Heute ist das erste Mal die umgekehrte Situation.

00:00:18: Ich darf heute den Lukas Fleischer interviewen. Hallo Lukas.

00:00:22: Hallo Fabian.

00:00:24: Ich hoffe, dir geht es gut.

00:00:25: So weit. Ich bin auch ein bisschen nervös, weil es ist heute eine sehr chemische Entscheidung und ich bin vom fachlichen Hintergrund Maschinenbauer.

00:00:33: Also ich hoffe, du kannst mir mit deinem Verfahrenstechnik-Hintergrund ein bisschen aushelfen, was die chemischen Komponenten angeht.

00:00:39: Gemeinsam werden wir uns da durchkämpfen, das glaube ich schon.

00:00:40: Da bin ich mir sicher.

00:00:42: Du hast bereits im Vorhinein, wir haben im Off schon ein bisschen diskutiert, kurz anklingen lassen, es wird heute um wesentliche Merkmale gehen.

00:00:49: Und im vorliegenden Fall um wesentliche Merkmale von einer höchst chemischen Erfindung.

00:00:54: Lukas, kannst du uns die Erfindung mal darlegen?

00:01:01: Worum es in der Erfindung geht, ist eine Zwei-Komponenten-Polyurethan-Zusammensetzung

00:01:07: beziehungsweise ein Verfahren, mit dem man einen Faserverbundwerkstoff herstellen kann,

00:01:14: in dem so eine Zwei-Komponenten-Polyurethan-Zusammensetzung eingesetzt werden kann.

00:01:19: Gibt es irgendwelche Anwendungsfälle? Wofür wird das eingesetzt im vorliegenden Fall?

00:01:23: Ich würde sagen, es ist eher ein Hochleistungswerkstoff,

00:01:26: weil dieser Faserverbundwerkstoff wird dann in einer Form gepresst

00:01:31: und soll wohl irgendwelche besonders guten Eigenschaften aufweisen.

00:01:36: Du hast dir das auch technisch ein bisschen angeschaut.

00:01:39: Warum ist das eine Zweikomponenten-Polyurethan-Zusammensetzung

00:01:42: und welche Vorteile hat das?

00:01:44: Worum geht es?

00:01:46: Gemein, den Ball an mich zu spielen.

00:01:48: Du machst das auch immer.

00:01:49: Ich habe mir das tatsächlich ein bisschen angeschaut an Zweikomponenten.

00:01:53: Wie du richtig gesagt hast, es soll wohl in irgendeine Form gegossen werden.

00:01:57: Üblicherweise bestehen solche Zweikomponentenmischungen aus einer reaktionsfähigen Lösung und aus einer Vernetzung.

00:02:04: Wenn die in Kontakt kommen, dann erstarren die relativ schnell.

00:02:08: Ich habe jetzt natürlich das Problem, wenn ich eine Form habe mit vielen Verwinkelungen,

00:02:12: dann will ich nicht, dass diese Komponenten sofort vernetzen,

00:02:15: sondern ich sollte ihnen einmal Zeit geben, dass sie diese Komponenten ausbreiten,

00:02:20: bevor die Vernetzungsreaktion geschieht.

00:02:22: Und genau das soll, glaube ich, diese Erfindung lösen.

00:02:27: Sprich, ich möchte zuerst eine gewisse Ausbreitung der Komponenten haben,

00:02:30: bevor die Vernetzungsreaktion entsteht.

00:02:34: Das heißt für mich als Maschinenbauer quasi,

00:02:37: wie wenn ich Stahl in eine Form gieße und nicht möchte,

00:02:40: dass es erstarrt, bevor es in die letzten Ecken hineingeronnen ist,

00:02:43: ist es da eben die chemische Reaktion zwischen den beiden Komponenten von dem Polyurethan,

00:02:47: die die Vernetzung und quasi das Erstarren in dem Fall bewirken.

00:02:51: Genau, und das schaffe ich, indem ich mir gewisse Heterogenität in dieser Mischung beibehalte, zumindest zum Beginn.

00:02:59: Ja, soweit ist die Erfindung, glaube ich, wenigstens überblicksmäßig verstanden.

00:03:06: Sehr oft schauen wir uns das Prüfungsverfahren an.

00:03:10: Ich glaube, das ist auch in diesem Fall relevant.

00:03:13: Ja, in dem Fall ist es sogar hochrelevant, weil die Beschwerdeentscheidung um die es heute geht,

00:03:18: ist eine Beschwerde gegen die Zurückweisungsentscheidung einer Prüfungsabteilung.

00:03:22: Das heißt, das Prüfungsverfahren ist das einzige Verfahren, das es heute gibt, das wir uns betrachten können.

00:03:27: Das ist eine willkommene Abwechslung, würde ich sagen.

00:03:29: Dann würde man sagen, beginnen wir am Anfang, was wollte denn die Anmelderin geschützt haben?

00:03:33: Die ursprüngliche Anmeldung zielt immer auf diese zwei Komponenten Zusammensetzung als solche ab.

00:03:38: Die Patentanmeldung kommt aus dem Jahr 2012. Das heißt, es ist ein sehr langes Prüfungsverfahren gewesen.

00:03:47: Ich möchte jetzt nicht im Detail auf den gesamten Ablauf eingehen, weil tatsächlich neun Prüfungsbescheide ergangen sind,

00:03:54: wobei erst der neunte dann die Ladung zur mündlichen Verhandlung war.

00:03:57: Was vielleicht relevant ist, ist, dass eben die Anmelderin während dieses Prüfungsverfahrens sehr oft versucht hat,

00:04:04: neue Merkmale aufzunehmen und auch diesen Anspruch umgestaltet hat, sodass die relevante Fassung jetzt auf eben dieses Verfahren abgestellt ist und nicht mehr auf die Zusammensetzung als solche.

00:04:15: Okay, also zuerst Schutz auf die zwei Komponenten, Zusammensetzung, da war die Anmelderin nicht erfolgreich.

00:04:22: Genau, und im Prüfungsverfahren wurden dann eben verschiedene Varianten versucht, um Merkmale aus der Beschreibung und aus den Ansprüchen,

00:04:29: also den abhängigen Ansprüchen in den unabhängigen Anspruch einzufügen.

00:04:33: Und das hat verschiedenste Widerstandsbewegungen durch die Prüfungsabteilung.

00:04:38: Du hast gesagt, neun Bescheide, oder?

00:04:40: Neun Bescheide, ja.

00:04:42: Was gibt es denn da, das mit Hilfe von neuen Bescheiden abgeklärt werden muss?

00:04:47: Sehr viele Sachen.

00:04:48: Also es wurde mangelnde Neuheit diskutiert, es wurde mangelnde Klarheit diskutiert

00:04:54: Und der vielleicht für das spätere Verfahren oder für den Aspekt, über den wir nachher reden werden, relevanteste Verfahrensschritt war eine Einwendung Dritter, die ungefähr beim dritten oder vierten Amtsbescheid eingereicht worden ist.

00:05:08: Und dort wurde argumentiert, dass ein Merkmal, das inzwischen in den Anspruch aufgenommen worden ist,

00:05:15: nämlich das besagt, dass die vernetzte Zusammensetzung eine Glasübergangstemperatur über 60 Grad,

00:05:23: gemessen mit einer ISO-Norm aufweist, dass das nicht ausführbar sei,

00:05:28: weil eben in der Anmeldung nicht ausreichend offenbart sei, wie man diese Glasübergangstemperatur einstellen kann.

00:05:33: Also es war auch nicht in der Beschreibung offenbart, wie das funktioniert?

00:05:36: Es gab schon eine relativ genaue Beschreibung, welches Verhältnis von welchen Bestandteilen der Zusammensetzung man verändern muss, um den Vernetzungsgrad und die Glasübergangstemperatur einzustellen.

00:05:48: Weil sozusagen durch der Vernetzungsgrad im direkten Zusammenhang mit der Glasübergangstemperatur steht, so wie ich das verstanden habe.

00:05:57: Dann verstehe aber ich den Einwand nicht ganz, weil wenn es in der Beschreibung steht, wie es funktioniert, was ist denn dann das Problem?

00:06:01: Eine gute Frage. Die Prüfungsabteilung hat den Einwand aufgegriffen und hat ihn aber umgestellt.

00:06:08: Die Prüfungsabteilung hat dann diesen Einwand zu einem späteren Zeitpunkt im Verfahren aufgegriffen

00:06:14: und hat gesagt, dass der Anspruch unklar sei, weil wesentliche Merkmale fehlen.

00:06:22: Wir haben jetzt doch schon einige Male den Begriff wesentliches Merkmal erwähnt.

00:06:26: ist ja offenbar der Begriff, woran sich die Prüfungsabteilung stößt.

00:06:32: Was versteht denn die Prüfungsabteilung darunter und warum stößt sie sich daran?

00:06:37: Die Prüfungsabteilung verwendet den Begriff der essentiellen Merkmale,

00:06:42: meint aber wohl diese wesentlichen Merkmale.

00:06:44: Die wesentlichen Merkmale werden durch die Rechtsprechung definiert

00:06:48: und kommen eigentlich aus der Regel 43 Absatz 3 EPÜ.

00:06:53: Das ist die Regel, die sagt, dass unabhängige Ansprüche alle wesentlichen Merkmale enthalten müssen.

00:07:00: Und darauf stützt sich die Prüfungsabteilung im Zusammenhang eben mit dieser Glasübergangstemperatur von 60 Grad.

00:07:07: Im Rahmen des Prüfungsverfahrens wurden da viele Argumente vorgebracht.

00:07:11: Und so hat die Anmelderin zum Beispiel versucht, diese zwei Komponenten, aus denen die Polyurethan-Zusammensetzung besteht,

00:07:19: ins Spiel zu bringen und sagt, einmal sind das Polyole und die können die Vernetzungsdichte beeinflussen

00:07:25: und die Vernetzungsdichte, die hat dann auch einen Einfluss auf die Glasübergangstemperatur

00:07:31: oder aber, dass eben die Funktionalität der Isocyanat-Komponente einen Einfluss auf die Vernetzungsdichte

00:07:38: und damit auf die Härte und die Sprödigkeit von Polyurethanen hat.

00:07:42: Und damit sagt die Prüfungsabteilung, ja, welchen Einfluss und warum steht er nicht im Anspruch?

00:07:47: Das müsste doch eigentlich im Anspruch stehen.

00:07:49: Okay, ich glaube, jetzt habe ich es verstanden. Ein bisschen schwingt da meines Erachtens die Ausführbarkeit mit. Macht denn die Prüfungsabteilung jetzt eben diese mangelnde Ausführbarkeit geltend?

00:08:02: Nein. Also die Prüfungsabteilung weist den Hauptantrag alleine,

00:08:07: basierend auf dem Artikel 84 EPÜ, also auf mangelnder Klarheit, zurück,

00:08:11: sagt, dass diese essentiellen Merkmalen nach Regel 43 EPÜ fehlen

00:08:14: und meint damit den zweiten Satz von Artikel 84 EPÜ,

00:08:19: der eben sagt, dass die Ansprüche durch die Beschreibung gestützt sein müssen.

00:08:23: Das muss wohl die Gangart sein, die die Prüfungsabteilung hier anstrebt.

00:08:28: Und das ist ja ein schmaler Grat zwischen der Ausführbarkeit nach Artikel 83 EPÜ und der Stützung durch die Beschreibung, die in Artikel 84 EPÜ gefordert ist, bei denen schon vortrefflich gestritten worden ist.

00:08:40: Das ist in dem Fall ganz witzig, meiner Meinung nach, weil üblicherweise kennt man es ja genau zum Beispiel in Einsprüchen umgekehrt.

00:08:45: Man versucht, die Klarheitseinwände in mangelnde Ausführbarkeitseinwände zu verstecken.

00:08:50: Da war es jetzt wohl ein bisschen umgekehrt. Interessant.

00:08:53: Ja, weil es wahrscheinlich einfacher zu begründen ist.

00:08:55: Bei der Ausführbarkeit muss man sich sehr im Detail mit der Erfindung beschäftigen.

00:09:00: Bei der mangelnden Klarheit kann man einfach sagen, es ist unklar.

00:09:03: Ja, okay. Das heißt, konsequenterweise wurde die Anmeldung dann zurückgewiesen?

00:09:09: Genau, es gab dann eben diese mündliche Verhandlung.

00:09:12: Dort wurde die Klarheit oder die mangelnde Klarheit

00:09:15: aufgrund von diesen fehlenden essentiellen Merkmalen diskutiert.

00:09:18: Es gab dann auch noch eine Reihe von Hilfsanträgen,

00:09:21: wo eben versucht worden ist, diese Mängel auszuräumen und dort hat die Prüfungsabteilung mangelnde Neuheit argumentiert

00:09:28: gegenüber recherchierten Dokumenten, die sich im Verfahren befunden haben oder eben durch die Einwendung Dritter ins Verfahren eingebracht worden sind.

00:09:35: Das heißt, wir haben einen Zurückweisungsbeschluss durch die Prüfungsabteilung.

00:09:40: Okay, also im Ergebnis haben wir eine Zurückweisung der Patentanmeldung und wahrscheinlich eine unglückliche Anmelderin.

00:09:50: Das heißt, sie hat dann Beschwerde eingelegt und jetzt wird uns allen natürlich interessieren,

00:09:56: was die Beschwerdekammer zu dieser wahrscheinlich umstrittenen Meinung der Prüfungsabteilung gesagt hat.

00:10:03: Vielleicht starten wir mit dem Orientierungssatz, den die Beschwerdekammer uns mitgegeben hat.

00:10:09: Was war der?

00:10:10: Und die Beschwerdekammer ist nämlich im Endeffekt zum Schluss gekommen,

00:10:14: das wesentliche Merkmal der Erfindung gemäß Regel 43 Absatz 3 EPÜ diejenigen sind,

00:10:20: die der Anmelder als wesentlich für den beantragten Patentschutz ansieht

00:10:23: und nicht diejenigen, die die Prüfungsabteilung als ausreichend erachtet,

00:10:26: um materiell rechtliche Erfordnisse zu erfüllen.

00:10:29: Ich leite daraus mal ab, dass die Prüfungsabteilung außerhalb ihrer Kompetenz gearbeitet hat.

00:10:36: Ganz genau. Also die Beschwerdekammer hat sich hier sehr kritisch damit auseinandergesetzt,

00:10:42: wie die bisherige Rechtsprechung war zu diesen wesentlichen Merkmalen

00:10:47: und ist dann eben zu einer gegenteiligen Auffassung gekommen.

00:10:52: Wie hat sie das gemacht?

00:10:53: Sie hat sich die alte Rechtsprechung angeschaut.

00:10:56: Dort gibt es eben Rechtsprechung aus den 90er Jahren,

00:11:00: zum Beispiel die T 409/91,

00:11:02: die eben tatsächlich so einen materiell-rechtlichen Aspekt

00:11:06: in der Klarheit sieht und in den wesentlichen Merkmalen,

00:11:09: hat aber auch jüngere Rechtsprechungen bearbeitet,

00:11:12: bearbeitet, zum Beispiel die Entscheidung T 1020/03, die tatsächlich eher das Erfordernis der Stützung der Ansprüche als formale Frage betrachtet.

00:11:24: Okay, danke. Dafür kannst du vielleicht kurz mal mir erklären, was der Unterschied ist, ob man das jetzt materiell-rechtlich sieht oder rein formell?

00:11:33: In dieser älteren Rechtsprechungslinie wurde die Parallelität, die wir vorher schon angerissen haben,

00:11:41: zwischen Artikel 83 und Artikel 84 EPÜ, zwischen der Ausführbarkeit und der Klarheit angezogen

00:11:46: und wurde hier sozusagen als materiell-rechtliches Erfordernis für den Patentanspruch definiert,

00:11:53: das dann sozusagen ausführbar sein muss.

00:11:56: Und wenn halt wesentliche Merkmale fehlen, dann wäre das ein Klarheitsmangel.

00:12:02: Also wesentliche Merkmale, die der Fachmann braucht, um diese Erfindung abzugrenzen vom Stand der Technik.

00:12:07: Also man hat es eigentlich der Prüfungsabteilung leicht gemacht.

00:12:09: Sie hat gesagt, wenn es nicht ausführbar ist, dann könnte es in Klarheit sein,

00:12:11: und bringen, kein Problem, you're good to go.

00:12:15: Jein, weil der Mangel der Ausführbarkeit ist natürlich ein Wurzelproblem.

00:12:19: Das heißt, wenn es nicht ausführbar ist, dann kann ich es wahrscheinlich nicht retten.

00:12:24: Wenn es nur ein Klarheitsmangel ist, dann könnte ich ja diese Merkmale, die in der Beschreibung vorhanden sind,

00:12:29: einfach in den Anspruch aufnehmen, um den Klarheitsmangel zu beseitigen.

00:12:33: Also da sagt er nur, es gibt Merkmale, die wesentlich sind, aber die fehlen im Anspruch,

00:12:37: aber nicht die fehlen in der gesamten Anmeldung.

00:12:40: Okay, jetzt habe ich es auch verstanden.

00:12:43: Und ausgehend von dieser jüngeren Rechtsprechung, die das eher als formalen Aspekt gesehen hat,

00:12:47: hat sich diese Beschwerdekammer jetzt auch noch die G 3/14 angeschaut,

00:12:51: wo es ja um die Klarheit im Einspruchsverfahren gegangen ist,

00:12:54: und hat auch aus dieser Entscheidung abgeleitet,

00:12:57: dass es bei der Stützung der Ansprüche durch die Beschreibung wohl eher um einen formalen Aspekt geht.

00:13:02: Also das es wohl, auch wenn die Beschwerdekammer es nicht so deutlich sagt,

00:13:06: reicht, wenn die wortwörtlich gestützt sind.

00:13:08: Wenn ich die Ansprüche in die Beschreibung kopiere, dann habe ich die Ansprüche gestützt durch die Beschreibung.

00:13:13: Okay, das heißt, ich habe dann die Box abgeschrieben?

00:13:16: Genau, das formale Vorne ist also erfüllt.

00:13:19: Ich brauche keine Angst haben mehr vor diesem Einwand von der Prüfungsabteilung.

00:13:24: Die Beschwerdekammer hat sich auch angeschaut, wo dieser Begriff der wesentlichen Merkmale herkommt.

00:13:29: Das haben wir vorher schon erwähnt, das ist die Regel 43 EPÜ, die die Form und Inhalt der Patentansprüche regelt.

00:13:36: Und diese wesentlichen Merkmale kommen eigentlich nur in Absatz 3 vor,

00:13:41: wo eben drinsteht, dass der unabhängige Patentanspruch die wesentlichen Merkmale der Erfindung wiedergeben muss,

00:13:47: die sich auf die Erfindung beziehen.

00:13:49: Und nachdem alle anderen Aspekte, zum Beispiel, dass man abhängige Ansprüche formulieren kann

00:13:54: oder dass ich nur eine Sorte oder nicht mehrere verschiedene unabhängige Ansprüche der selben Kategorie

00:14:00: außer in Ausnahmefällen aufstellen darf.

00:14:03: Auch das sind nur Formalkriterien und die haben eigentlich keinen materiell-rechtlichen Aspekt.

00:14:06: Die regeln nur, wie muss denn so ein Anspruch ausschauen?

00:14:10: Ich glaube, du hast uns jetzt recht anschaulich die materiell-rechtliche,

00:14:12: auch die formale Interpretation veranschaulicht.

00:14:15: Aber wofür hat sich denn jetzt die Beschwerdekammer entschieden? Für welche Linie?

00:14:19: Die Beschwerdekammer ist dann zum Schluss gelangt, dass es die formale Variante ist, die hier ausschlaggebend ist,

00:14:26: dass also der Artikel 84 EPÜ und die Stützung durch die Beschreibung alleine als formale Anforderungen zu sehen sind

00:14:34: und dass eben keine materiell-rechtlichen Anforderungen an den Patentanspruch gestellt werden dürfen,

00:14:39: basierend auf dem Artikel 84 unter Regel 43 Absatz 3 EPÜ.

00:14:42: Was hat die Beschwerdekammer in weiterer Folge gemacht?

00:14:46: Die Beschwerdekammer hat dann ihre Prüfungsbefugnis ausgeführt und hat das Verfahren an sich gezogen

00:14:53: und hat im nächsten Schritt festgestellt, dass sie der Auffassung ist,

00:14:57: dass diese materiell-rechtliche Komponente, die die Prüfungsabteilung hier gestört hat,

00:15:02: eigentlich ein versteckter Mangel an Ausführbarkeit war.

00:15:05: Und hat halt im ersten Schritt jetzt überprüft, ist denn diese Erfindung ausführbar?

00:15:10: Du hast, glaube ich, eingangs erwähnt, es ist in der Beschreibung gestanden,

00:15:12: wie die Glastemperatur zustande kommen kann.

00:15:15: Das heißt, ich gehe davon aus, dass dann in Wahrheit kein Ausführbarkeitsproblem sein kann.

00:15:19: Ganz genau. Das hat sich die Kammer relativ genau angeschaut und hat eben festgestellt,

00:15:25: die Fachperson weiß eben, dass diese Glasübergangstemperatur über die Auswahl von dem Polyol- und dem Polyisocyanat-Komponenten

00:15:33: oder die Vernetzungsdichte beeinflusst werden kann und wäre dann auch durch mehrere Versuche oder wenige Versuche in der Lage,

00:15:41: eine Zusammensetzung zu finden, basierend auf der Offenbarung und den Beispielen,

00:15:46: die hier offenbart worden sind, um eben zu einer Glasübergangstemperatur von über 60 Grad zu gelangen.

00:15:52: Also Problem gelöst, nächster Schritt, Erteilung?

00:15:55: So einfach ist es nicht.

00:15:56: Sie hat noch andere Aspekte der Ausführbarkeit betrachtet,

00:15:59: weil dieser Anspruch sehr viele verschiedene Messmethoden und Eigenschaften und Parameter definiert hat

00:16:06: und ist aber im Endeffekt zum Schluss gekommen, dass die Erfordernisse des Artikel 83 EPÜ erfüllt sind.

00:16:11: Also nochmal, nächster Schritt Erteilung, oder?

00:16:14: Der nächste Schritt war dann die Prüfung der Neuheit, weil das war der Zurückweisungsgrund für die Hilfsanträge

00:16:21: und die Prüfungsabteilung war ja der Ansicht, dass alle Merkmale durch diese Stand der Technik Dokumente gezeigt sind.

00:16:28: Und die Beschwerdekammer hat sich diese Dokumente im Detail angeschaut,

00:16:33: ist aber zum Schluss gekommen, dass die Prüfungsabteilung auch hier ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen ist,

00:16:39: denn sie hat an mehreren Stellen für Merkmale postuliert,

00:16:43: dass dieses Merkmal fachüblich sei, zwar nicht offenbart ist, aber trotzdem nicht neu ist.

00:16:49: Jetzt habe ich gelernt, Neuheit ist dumm.

00:16:51: Wenn es nicht da steht, dann ist es de facto nicht neuheitsschädlich.

00:16:54: Ganz genau so ist es.

00:16:55: Also die implizierte Offenbarung, die ist sehr schwierig beim Europäischen Patentamt.

00:17:00: Und hier kommt die Beschwerdekammer, glaube ich, richtigerweise zum Schluss,

00:17:03: dass wenn nicht alle Merkmale unmittelbar und eindeutig offenbart sind, dann ist es neu.

00:17:08: Wir sind neu. Die Beschwerdekammer hat quasi die Prüfung übernommen.

00:17:14: Jetzt würde mich wirklich interessieren, hat sich die Beschwerdekammer über die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auch getraut?

00:17:20: Natürlich nicht.

00:17:21: Ja, Klassiker.

00:17:22: Wäre auch wirklich nicht fair, weil es zum ersten Mal jetzt in der zweiten Instanz diskutiert worden wäre.

00:17:28: Die Beschwerdekammer hat eben an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen mit den Feststellungen,

00:17:34: welche Unterscheidungsmerkmale zu den unterschiedlichen relevanten Stand der Technik Dokumenten bestehen.

00:17:39: Ist von der Prüfungsabteilung natürlich akzeptiert worden?

00:17:41: Muss.

00:17:42: So ist es.

00:17:43: Sie sind da chancenlos, das EPÜ sagt, sie sind gebunden an die Entscheidung der Beschwerdekammer.

00:17:48: Und wir sind jetzt eben zurück im Verfahren vor der Prüfungsabteilung.

00:17:52: Nach wie vielen Jahren?

00:17:54: Jetzt sind wir gleich bei 13 Jahren oder so.

00:17:56: Nett.

00:17:57: Und hier gibt es jetzt auch schon einen Prüfungsbescheid.

00:18:00: Und dort hält die Prüfungsabteilung fest, dass für diese beiden Unterscheidungsmerkmale in der Anmeldung keine technische Wirkung offenbart ist.

00:18:08: Und deswegen ist es nicht erfinderisch.

00:18:11: Höre ich heute auch nicht zum ersten Mal. Ist ein bisschen eine komische Argumentation, würde ich meinen.

00:18:17: Wir werden sehen, vielleicht gibt es eine Fortsetzung vom Podcast, falls das noch einmal in die Instanz hochgeht.

00:18:21: Würde mich tatsächlich interessieren.

00:18:23: Wir werden das auf alle Fälle im Auge behalten.

00:18:25: Ich glaube, die Anmelderin ist schon sehr bereit für ihre Anmeldung zu kämpfen.

00:18:30: Ich kann man nicht vorstellen, dass sie so eine Argumentation auf sich sitzen lässt.

00:18:35: Okay, Lukas, eingangs haben wir ja mit dem Orientierungssatz begonnen.

00:18:41: Ich glaube, es wäre jetzt durchaus noch mal als kleiner Recap sinnvoll,

00:18:45: dass wir vielleicht den nochmal wiederholen.

00:18:48: Genau, also der Sukkus der Entscheidung und der Orientierungssatz,

00:18:51: den die Beschwerdekammer uns mitgegeben hat, ist der,

00:18:53: dass der Anmelder die wesentlichen Merkmale definiert und nicht die Prüfungsabteilung.

00:19:00: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das in der Breite immer zutreffend ist, weil ein kleiner Nebenstrang der Argumentation war schon, dass es keinen Widerspruch geben darf zwischen der Beschreibung und den Ansprüchen.

00:19:15: Ich könnte mir also vorstellen, dass dieser klassische Fall, dass ein Merkmal, das aus der Beschreibung geschöpft ist und da steht, das muss zwingend noch ein anderes Merkmal enthalten, dass das vielleicht noch immer ein Klarheitsproblem darstellt, wenn es eine Differenz zwischen dem Anspruch und der Beschreibung gibt.

00:19:33: Man könnte natürlich aber auch argumentieren, dass das dann eine Überschreitung der ursprünglichen Offenbarung und damit eine Zwischenverallgemeinung ist und damit kein Klarheitsproblem.

00:19:42: sehe ich sehr ähnlich.

00:19:45: Aber grundsätzlich zurück zum Leitsatz,

00:19:47: also der Fleischer'sche Zusatz zum Leitsatz wäre,

00:19:52: die Anmelderin und nicht die Prüfungsabteilung bestimmt,

00:19:55: die wesentlichen Merkmale,

00:19:57: zumindest dann, wenn es keine Widersprüche mit der Beschreibung gibt.

00:20:01: Genau, so würde ich das vielleicht einschränken.

00:20:04: Aber es bleibt natürlich offen, wie die Beschwerdekammern das aufnehmen

00:20:07: und auch, ob es diese Entscheidung in die Prüfungsrichtlinien des Europäischen Patentamts schaffen,

00:20:11: weil sonst ist es halt eine Einzelfallentscheidung, an die die Prüfungsabteilung nicht gebunden ist.

00:20:17: Also nachdem die Anmelderin also diese Sorge bezüglich der wesentlichen Merkmale los ist,

00:20:22: dürfen wir gespannt sein, wie es mit der erfinderischen Tätigkeit weitergeht.

00:20:26: Die vorläufige Meinung der Prüfungsabteilung schaut ja nicht so rosig aus.

00:20:30: Aber ich glaube, Lukas, du wirst uns diesbezüglich auf den Laufenden halten.

00:20:33: Ja, vielen Dank Fabian. Ich werde natürlich den Akt überwachen.

00:20:36: Und wenn es hier etwas Neues gibt, dann werden wir im Podcast noch einmal darüber sprechen.

00:20:41: Gut, dann bleibt uns nur mehr zu sagen, vielen Dank fürs Zuhören und bis bald, Lukas.

00:20:46: Bis zum nächsten Mal, Fabian.

00:20:52: Das war ein IP Courses Podcast.

00:20:55: Für Feedback schreiben Sie uns an podcast@ipcourses.org,

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